„Letztlich bestimmen Schlepper die Route“
Im serbisch-ungarischen Grenzgebiet floriert trotz des Zauns das Schlepper-Geschäft. Die Behörden vermelden den größten Andrang auf der Balkanroute seit 2016. Ein Lokalaugenschein.
Der Nebel über der verfallenen Fabrikhalle lichtet sich. Weißer Reif hat in der klirrend kalten Nacht die Müllberge vor der Industrieruine am Ortsausgang der nordserbischen Provinzstadt Sombor überzogen. Bibbernd versuchen sich zwei Jugendliche an einem Feuer zu wärmen.
Sie seien aus Syrien und könnten kein Englisch, nur Arabisch, erklären sie mühsam. Ein bärtiger Jemenit weist auf einen Pfad, der zu einer Lagerhalle führt: „Vielleicht findest du in dem Hangar jemanden, der mit dir sprechen kann.“Ein verhärmt wirkender junger Mann stellt sich als Hasan und Lehrer aus der syrischen Kurdenhochburg Qamishli vor. „Bei uns ist Krieg“, erklärt der studierte Ökonom, warum er vor 90 Tagen seine Heimat in Richtung Deutschland verließ. Er wolle ein „anderes, normales Leben“, sagt der Kurde: „Aber der Weg ist schwer, sehr schwer.“
Den größten Andrang an den EU-Außengrenzen seit der
Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 vermeldet die EU-Grenzschutzbehörde Frontex: Fast die Hälfte der 308.000 in den ersten zehn Monaten des Jahres registrierten illegalen Einreisen in die EU sei über die Balkanroute erfolgt. Laut Serbiens Flüchtlingskommissariat ist die Zahl der offiziell registrierten Transitmigranten bis Dezember um über 100 Prozent auf 116.312 gestiegen. Den meisten von ihnen ist die Weiterreise geglückt. Neben den 5200 Menschen, die sich offiziell in Serbiens überfüllten Auffanglagern aufhalten, biwakieren im Grenzgebiet zu Ungarn bis zu 3000 Menschen in Privatquartieren, Ruinen oder unter freiem Himmel.
70 Prozent der Flüchtlinge, die durch Serbien ziehen, stammten aus Afghanistan oder Syrien, sagt Milica Sˇvabic´ von der Hilfsorganisation „klikAktiv“in Belgrad. Die vermehrten Bewegungen auf der Balkanroute seien einerseits mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zu erklären. Andererseits habe die Türkei begonnen, Flüchtlinge nach Syrien abzuschieben oder ihre
Aufenthaltsgenehmigungen nicht mehr zu verlängern. Derzeit gelange der Großteil der Flüchtlinge von der Türkei über Bulgarien nach Serbien, so Sˇvabic´: „Von hier versuchen die meisten über Ungarn nach Westen zu kommen.“Neben Zäunen und Patrouillen seien es die Schleppernetzwerke, die für die ständigen Umleitungen der Balkanroute sorgten: „Letztlich bestimmen Schlepper den Routenverlauf. Auf eigene Faust ist fast niemand mehr unterwegs.“it den „besonders stark entwickelten“Schleppernetzwerken in Serbien und Ungarn erklärt die Anwältin, dass die Hauptroute seit Sommer 2021 erneut über das Land mit den höchsten Stacheldrahtzäunen verläuft: „Logisch ist die Passage über Ungarn keineswegs. Objektiv wäre es leichter, über Kroatien nach Westen zu gelangen.“In Ungarn würden die Schlepper zum Weitertransport nicht an der Grenze, sondern in Weilern oder Gehöften im Hinterland
REPORTAGE.
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auf Kundschaft warten: „Bis dorthin müssen sich die Leute allein durchkämpfen.“Direkt am Grenzzaun seien ungarische Grenzer, im „zweiten Gürtel“im Hinterland meist österreichische und deutsche Beamte stationiert, so Sˇvabic´: „Die Leute gelangen mit Leitern auf die Zäune und verletzen sich häufig beim Sprung nach unten.“
Je stärker der Andrang, „desto größer die Gewalt“, so die Erfahrung von Sˇvabic´. Lange sei die bosnisch-kroatische Grenze „am brutalsten“überwacht gewesen. Nun intensiviere sich mit der gestiegenen Zahl der Grenzgänger erneut in Ungarn der Prügeleinsatz. Im Gegensatz zu Ungarns Polizisten seien die dort eingesetzten Auslandsbeamten „normalerweise nicht gewalttätig“: „Wenn sie die Flüchtlinge aufgreifen, übergeben sie die Leute den ungarischen Kollegen, die sie zurück zur Grenze befördern – und nach Serbien abdrängen.“
Den Kopf schüttelnd beäugt Slobodan vor seinem Haus in
Sombor, wie Rucksackträger aus dem nahen Wald zum Auffangzentrum hinter seinem Anwesen trotten. „Anfangs waren hier nur Familien untergebracht, es gab keine Probleme“, berichtet er. Doch seit vier Jahren sei sein Leben „zur Hölle“geworden, klagt der Serbe: „Immer mehr Migranten kommen und gehen. Der Wald wurde zur Müllhalde.“Nachts habe er Schüsse gehört: „Die Polizei sagt, alles sei unter Kontrolle. Aber nichts ist in Ordnung“.
Bei den Jugendlichen aus Afghanistan handle es sich meist um Minderjährige von 15 Jahren „und aufwärts“, sagt Sˇvabic´. „Bei den Syrern sind Kinder von zwölf Jahren und jünger allein unterwegs.“Oft hätten deren Eltern keine Vorstellung, wie Familienzusammenführung funktioniere: „Sie denken, dass es der sicherste Weg sei, den ältesten Sohn mit zwölf Jahren auf die Reise zu schicken. Sie glauben, dass er in Deutschland Papiere und Asyl erhält und die Familie nachkommen kann.“