Eine Ikone in finsterer Mission
Berichtet über das Leben in Russland. Seit dem Jahr 2021 leitet er in Moskau das ORF-Korrespondentenbüro.
Wer Russlands größte Kathedrale besuchen will, wird dieser Tage durchleuchtet wie am Flughafen. Ganzkörperscanner und Absperrgitter säumen die Christ-Erlöser-Kathedrale mit ihren goldenen Kuppeln unweit des Kremls. Aus gutem Grund: Schon bald werden Tausende russischorthodoxe Gläubige aus allen Ecken des Landes hierher pilgern, um ein Kunstwerk zu bewundern, das schon lange keine Kirche mehr von innen gesehen hat: die Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit.
Geschaffen von Andrei Rubljow im 15. Jahrhundert, gehört das Heiligenbild zu den bekanntesten Meisterwerken der Ikonenkunst. Über Jahrhunderte wurden Ikonen wie diese immer wieder von Machthabern für politische Zwecke missbraucht, mussten Segen spenden für die Feldzüge von Fürsten und Zaren. Das ist auch heute wieder so: Präsident Wladimir Putin hat nun überraschend angeordnet, die Dreifaltigkeitsikone aus ihrem temperaturgeregelten Ausstellungsraum in der Moskauer Tretjakow-Galerie zu holen und an die russischorthodoxe Kirche zu übergeben. Kirchenoberhaupt Kirill schreibt in einem Dankesbrief an Putin von einem „zutiefst symbolischen Schritt“in einer „schicksalhaften Periode der Existenz des russischen Staats“. Damit meint Kirill offenbar den Krieg, den er und die Kirche nach Kräften unterstützen. Unvergessen die Predigt des
Patriarchen, in der er den russischen Soldaten versprach, dass ein Tod in der Ukraine sie von „allen Sünden reinwäscht“.
Kunstkenner warnen vor der Verlegung des fragilen Gemäldes. Die Ikone könnte „innerhalb von mehreren Monaten oder einem Jahr buchstäblich sterben“, wenn sie den Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen einer Kirche mit Besuchern, Wachs und Kerzen ausgesetzt sei, sagt die Kunsthistorikerin Sofija Bagdasarowa.
Wladimir Putin dürfte das wenig kümmern. Während seine „Spezialoperation“offenbar nicht nach Plan läuft, setzt er auf Unterstützung von oben. Die Dreifaltigkeitsikone ist nur ein Beispiel, wie er religiöse Symbole zur Inszenierung eines „heiligen Krieges“missbraucht. Im März überreichte Putin bei einem Frontbesuch eine andere Ikone an einen seiner Generäle. Laut der staatlichen Zeitung „Iswestija“wird das Heiligenbild seitdem von Bataillon zu Bataillon gereicht. „Die Ikone gibt uns Kraft und Erfolg“, zitiert die Zeitung einen Soldaten. Ob das von Putin gestiftete Heiligenbild im Schützengraben tatsächlich unterstützend wirkt, lässt sich nicht überprüfen. as ist auch der Haken an der Geschichte mit der berühmten Dreifaltigkeitsikone: Entgegen der Behauptung von Kirchenvertretern ist nirgendwo verbrämt, dass sie jemals ein Wunder bewirkt hätte.
D