Kleine Zeitung Kaernten

Verschwomm­ene Gedankenlo­sigkeit

Wenn ein Leser sich keinen Urlaub leisten kann und sich dennoch nicht arm fühlt.

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Manche Schicksale begleiten, lassen nie mehr los. Ja, sie haben auch mit Armut zu tun, aber nicht mit jener, von der gerade lautstark die Rede ist. Also dass sich Menschen keinen Urlaub mehr leisten können oder dass „keiner hungern oder frieren soll“, wie viele derzeit mahnen.

Sie war blond, schlank und eine Kämpferin. Ihr Leben? Seit mehr als 20 Jahren pflegt sie ihren gelähmten Sohn, dreht ihn alle 20 Minuten um, damit er sich nicht wund liegt, kontrollie­rt die Beatmungsm­aschine, saugt ihn bis zu 30 Mal am Tag ab, weil er nicht schlucken kann. Ihr Mann arbeitet in der Nacht, verdient 1500 Euro. Wenn der Sohn einmal die Augen schließt, weiß sie, dass alles passt, zweimal bedeutet ein Nein. Wie sie diese Belastung über Jahre ausgehalte­n hat?

Eine Frage, die sie sich nie stellte. Sie liebe, sagte sie, ihren Buben, er gebe jene Kraft, die sie in all den Jahren für ihren Kampf um unterschie­dlichste Hilfen benötigt hat. Als sie mich anrief, ist ihr gerade mitgeteilt worden, dass ihr Sohn die Hilfe zum Lebensunte­rhalt von 600 Euro monatlich nicht mehr bekommen werde. „Ich musste“, sagte sie, „immer kämpfen, kämpfen, jetzt kann ich nicht mehr.“Wie jener Mann nicht mehr konnte, der über Jahre seine an MS leidende Frau pflegte. 1200 Katheter benötigte er. Die Kasse genehmigte 900. Soll ich, fragte er die Chefärztin, meine Frau ersticken lassen? erschwomme­ne Gedankenlo­sigkeit“nennt Tobias Moretti den Umgang mit Krankheit und Behinderun­g. Ob das zutrifft? Oder ob der leise Kampf dieser Menschen einfach untergeht im lautstarke­n Klagen über jene, die sich keinen Urlaub leisten können? Ob es auch verschwomm­ene Gedankenlo­sigkeit ist, wenn selbst beim jüngsten 500-Millionen-Hilfspaket für Kinder kritisiert wird, dass auch damit nicht sichergest­ellt sei, dass „niemand hungern muss“oder Kinder täglich ein warmes Essen bekommen? Als ob ein warmes Essen vom Geld abhängen würde.

Er komme, schreibt ein Leser, aus einer 10-köpfigen Familie, habe drei Kinder erzogen, jahrzehnte­lang sich keinen Urlaub leisten können, aber sich nie arm gefühlt. Wo, fragt er, beginne heute Armut?

Und: Wem muss wirklich geholfen werden?

Von Mensch zu Mensch Carina Kerschbaum­er

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carina.kerschbaum­er@kleinezeit­ung.at

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