Der Tröster im Nachthimmel
Dzˇ evad Karahasan, einer der bedeutsamsten europäischen Autoren, ist verstummt. Nicht nur in seinen Werken spricht er weiter. Erinnerungen an einen großen Dichterfreund.
nach Graz, wo er seine Zweitheimat fand. International gefeiert und vielfach preisgekrönt als einer der wichtigsten europäischen Autoren, der nichts mehr scheute als das Rampenlicht. In Graz machte man ihm diesen Gefallen, er konnte weit eintauchen in die Anonymität. Dzˇevad, der große Unbekannte, der unerkannte Große. paziergänge liebte er. Und das Flanieren durch die Innenstadt, die man an seiner Seite neu entdecken konnte. Er hatte den Blick für das Verborgene, das anscheinend Nebensächliche. Das Gehen, das Re
Sden, das Lachen – ein Triptychon, geprägt durch die unglaublich spontanen Gedankensprünge dieses Universal- und Schriftgelehrten nach fast klassischer Tradition. Ein Handy ärgerte ihn, Google war im fremd. Er war selbst ein wandelndes Lexikon. Einige Sätze lang weilte er in der Antike bei Platon, wechselte plötzlich zu Dante, ehe er bei seinem Lieblingsklub, dem SK Sturm, landete. Zehn Minuten über einen seiner Lieblingsdichter, Anton Tschechow, ersetzten mehrere Biografien. Mit dem russischen Dichterfürsten teilte Dzˇevad
Karahasan die tiefe Melancholie. Aber bei ihm trug sie in den Gesprächen eine Tarnkappe. Das Lachen lag ihm weitaus näher als jede Bemerkung zur eigenen, mitunter gewiss auch leidvollen Befindlichkeit. Als gelte es, einen Kernsatz von Ludwig Wittgenstein abzuwandeln: Worüber man nicht reden will oder kann, darüber muss man schreiben. emanden „betratschen“– das war eine seiner Lieblingsbezeichnungen. Sie löste anfangs einige Irritation aus. Aber in seiner Muttersprache steht der Begriff nicht für boshafte Sticheleien, sondern für liebevolle, anerkennende Erörterungen. Also betratschten wir querweltein vielerlei. Oder hielten uns an ein anderes Wort: Unterbrechen Sie mich nicht, ich möchte schweigen! Dies löste bei ihm oft ein Schmunzeln aus. Hernach: Stille.
Einmal, nach der Rückkehr aus Wien von einer „Kirschgarten“-Premiere im Burgtheater, hielt Karahasan auf unserem Spazierweg kurz inne: „Eine Frage nur, mein Lieber: Standen bei der Inszenierung etwa
JKirschbäume auf der Bühne, vielleicht sogar blühende?“Die Frage wurde bejaht. Und mit einem heftigen Kopfschütteln quittiert: „Meine Güte! Da hat wieder jemand kein Wort von Tschechow verstanden. Ohne Spur von Fantasie“.
Mit Fantasie war dieser wunderbare Autor, Inbegriff der Toleranz und der Humanität, reichlich gesegnet; mehr noch: Sie schien ihm freudig zuzulaufen. Im sicheren Wissen, wohlbehütet aufgenommen zu werden. n einem seiner Hauptwerke, „Der Trost des Nachthimmels“, beschreibt er Isfahan, Schauplatz der Handlung, als sei er einst in der Geschichte auch dort Stadtschreiber gewesen. Klare Frage also an ihn: „Wie oft warst du denn dort?“Ebenso klare Antwort: „Nie.“Er fuhr dorthin, er blieb lange dort – aber nur als Kopfreisender. Trotzdem: Man hätte ihm stundenlang zuhören können bei seinen Beschreibungen der persischen Prunkstadt und bei seinen faszinierenden Geschichten über den Hofastronomen, Philosophen und Dichter Omar Chayyam. Damals verwies er auf ein irgendwo ergattertes Werk von Chayyam mit dem Titel „Durchblättert ist des Lebens Buch“.
Das mag nun auch für diesen großartigen Menschen und dichtenden Weltenforscher gelten. Aber Dzˇevad Karahasan bleibt unter uns. Als stiller, unentbehrlicher Tröster im Nachthimmel.
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