Kindheit im Ungleichgewicht
250.000 Kinder kämpfen in Österreich mit Übergewicht. In der Kinder- und Jugendreha erfährt man, was sie zu sagen haben.
haben die Kinder alle ein Ziel: Gewicht verlieren. Dass „die Zeitung“heute da ist, macht ihnen nichts aus. Im Gegenteil. An ihrem letzten Tag in der Reha wollen sie über ihre Erfolge sprechen. Adrian zum Beispiel. Der Bub wollte unbedingt unter die 100-Kilo-Marke kommen: „Und das ist mir gelungen.“
Aber die Reha in Bad Erlach auf Äußerlichkeiten zu begrenzen, greift zu kurz. Jutta Falger, die ärztliche Direktorin, weiß, dass Kinder und Jugendliche mit Adipositas mit mehr zu kämpfen haben als mit zusätzlichen Kilos. „Sie haben Schwierigkeiten im psychosozialen Bereich, finden keine Peergroup, der sie sich anschließen können, keine Partnerschaften, obwohl das Bedürfnis in der Jugend da ist. In der Schule oder im Lehrberuf werden sie ausgeschlossen. Und als Erwachsene stehen sie vor dem Problem, nicht in die Erwerbstätigkeit zu kommen.“Weil ihnen die Gesellschaft Faulheit als Charakterschwäche attestiert und ihnen damit jegliche Teilhabe verunmöglicht.
Adipositas, sagt Jutta Falger, ist eine „Epidemie des 21. Jahrhunderts“. Knapp jeder dritte Volksschüler in Europa hat Übergewicht. In Österreich sind es etwa 250.000 Kinder und Jugendliche. 40.000 sind von starkem Übergewicht betroffen. Es sind politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, „die unsere Umwelt adipogen“machen, sagt Falger. „Das gemeinschaftliche Kochen fällt weg, alle sind berufstätig, die Zeit fehlt, man greift zu Fertigprodukten.“Hinzu kommt: Grünflächen fehlen, keiner geht mehr zu Fuß. Und der Algorithmus spült den Kindern die Werbung für Zuckerwasser aufs Handy. Falger hält fest, dass „die Entstehung der Adipositas nicht nur in der Verantwortung des Individuums liegt, sondern eine gesamtgesellschaftliche ist“. Man könne an vielen Schrauben drehen: eine Zuckersteuer, ein Werbeverbot für Junkfood, eine tägliche Turnstunde und Ärztinnen und Ärzte, die sich mit Adipositas auskennen.
sich die Kinder und Jugendlichen selbst helfen.
Bis dahin müssen
Rund 100 Patientinnen und Patienten kann Falgers Team in der Reha pro Jahr aufnehmen, der Bedarf wäre wesentlich höher. Die, die einen Platz bekommen, reisen oft mit einem Elternteil an. In den fünf Wochen, die sie in der Reha verbringen, sollen sie vor allem auch Selbstbewusstsein erlangen. Am Programm stehen etwa Sportstunden oder Einzeltherapie. Und die Kinder lernen, was auf den Teller kommen sollte: „Ballaststoffe, Kohlenhydrate, ein bisschen Fette, das ist die eine Hälfte. Und die andere Hälfte sind Obst und Gemüse“, zählt Mathias (10) an seinen Fingern ab. Er will noch etwas abnehmen, sagt er, und dann sein Gewicht halten. „Ich wachse ja auch noch ein bisschen.“Oliver (8) und Johannes (10) sind in den fünf Wochen Freunde geworden. „Ich würde die Reha empfehlen“, sagt Johannes. Gerade hat er einen Brief von seinen Klassenkameraden
bekommen, dass sie ihn vermissen. Oliver, der auf dem Bauernhof seiner Eltern gern beim Ausmisten des Hühnerstalls hilft, ist überzeugt: Was er in Bad Erlach gelernt hat, kann er daheim weiter umsetzen.
Was sich die Kinder wünschen? „Dass die Leute nicht schimpfen und nett sind“, sagt Mariam. Sie und ihre Schwester Rima haben in der Reha aufeinander aufgepasst. Adrian ist wichtig: „Dass die Eltern öfter mit den Kindern rausgehen. Das ist natürlich schwer, wenn die Eltern viel zu tun haben, aber wenn mal Zeit frei wird, nicht vorm Handy sitzen oder vorm Fernseher, sondern spazieren.” Und Mathias will allen Kindern, die mit ihrem Gewicht kämpfen, noch etwas mitgeben: „Man soll an sich selber glauben. Wenn man nicht an sich selber glaubt, kann man nichts schaffen, nichts.“