Kleine Zeitung Kaernten

Die Leitkultur heißt Freiheit

Die Formulieru­ng einer Leitkultur kann allemal eine sinnvolle Selbstverm­essung darstellen. Ein Ausschluss der „anderen“ist damit aber nicht verbunden.

- Von Ernst Sittinger

Österreich ist ein kulturell vielfältig­es Land: Seit 60 Jahren gibt es mehr oder weniger starke Zuwanderun­g. In vielen Firmen arbeiten Beschäftig­te aus mehreren Dutzend Nationen. In den Schulen sind Religions- und Sprachgrup­pen bunt gemischt. Die traditione­lle Bevölkerun­gsmehrheit „katholisch mit deutscher Mut- tersprache“existiert zwar noch, aber ihre quantitati­ve Vor- macht schmilzt. Vor allem sind, unter dem Gebot der Diversität, die öffentlich sichtbaren Zirkel der Diskussion, der Repräsenta- tion und der Entscheidu­ng in den letzten Jahren deutlich bun- ter geworden.

Wie ein Kontrapunk­t wirkt vor diesem Hintergrun­d das ak- tuelle Vorhaben der ÖVP, eine Leitkultur fürs Land zu formu- lieren. Doch der vermeintli­che Widerspruc­h besteht nur beim ersten Hinsehen. Auf den zwei- ten Blick löst er sich auf: Gerade deshalb, weil unsere kulturelle Prägung ihre Eindeutigk­eit ver- liert, kann eine Selbstverm­es- sung sinnvoll sein. Festzustel- len, wie geartet unsere Mehr- heitskultu­r heute (noch) ist, wä- re demnach ein lohnendes und anspruchsv­olles Vorhaben.

ernst.sittinger@kleinezeit­ung.at

Er kenne das Grundgeset­z, „das reicht“, meinte einst der deutsche Vizekanzle­r Sigmar Gabriel. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Kultur ist mehr als Recht, sie ist ein lebendiges Gebilde, das sich in der Praxis formt und verändert. Insofern wird so ein Leitbild nie abge- schlossen und „fertig erzählt“sein. Wesentlich­er als die letz- ten Pinselstri­che des Bildes ist die politische Frage, was man aus den gewonnenen Feststellu­ngen ableiten will. Soll das Leitbild „leiten“, soll es Orientie- rung bieten? Als Referenzwe­rt für was genau soll es dienen? Woran bemisst sich sein prakti- scher Wert?

Wer die Kultur-Erforschun­g als Ausschluss des Andersarti- gen betreibt, wird jedenfalls scheitern. Denn eine der tragen- den Säulen unseres Wertege- rüsts ist sein liberaler Zuschnitt, der Offenheit und Toleranz um- fasst. Zudem lässt schon unser

Rechtssyst­em, das Menschenre­chte und Religionsf­reiheit für alle sowie Wohnsitz-Freizügigk­eit für viele garantiert, keine Brachial-Verdrängun­g „anderer“Kulturauff­assungen zu.

Was wir dennoch brauchen, sind Umgangs- und Begegnungs­formen, die das gedeihlich­e Zusammenle­ben in Vielfalt absichern. Wenn Zuwanderer­n aus anderen Kulturen deutlicher als bisher vermittelt wird, dass auch sie sich uneingesch­ränkt zu unseren Grundfreih­eiten bekennen müssen, dann ist das wünschensw­ert. Und offenbar notwendig, wie Berichte aus Schulen und Kindergärt­en nahelegen. ie „Intoleranz gegenüber der Intoleranz“ist womöglich der Kernbestan­d dessen, worauf wir uns als Leitkultur einigen können. Ein bestimmtes Lebensmode­ll in religiöser oder ideologisc­her Hinsicht ist damit nicht verbunden. Den Parteien steht es frei, im Wahlkampf ein mit zusätzlich­en Einschränk­ungen und Konturen versehenes WerteWeltb­ild zu propagiere­n. Das ist nicht nur zulässig, sondern willkommen. Aber mit „Leitkultur“soll man das nicht verwechsel­n.

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