Die Leitkultur heißt Freiheit
Die Formulierung einer Leitkultur kann allemal eine sinnvolle Selbstvermessung darstellen. Ein Ausschluss der „anderen“ist damit aber nicht verbunden.
Österreich ist ein kulturell vielfältiges Land: Seit 60 Jahren gibt es mehr oder weniger starke Zuwanderung. In vielen Firmen arbeiten Beschäftigte aus mehreren Dutzend Nationen. In den Schulen sind Religions- und Sprachgruppen bunt gemischt. Die traditionelle Bevölkerungsmehrheit „katholisch mit deutscher Mut- tersprache“existiert zwar noch, aber ihre quantitative Vor- macht schmilzt. Vor allem sind, unter dem Gebot der Diversität, die öffentlich sichtbaren Zirkel der Diskussion, der Repräsenta- tion und der Entscheidung in den letzten Jahren deutlich bun- ter geworden.
Wie ein Kontrapunkt wirkt vor diesem Hintergrund das ak- tuelle Vorhaben der ÖVP, eine Leitkultur fürs Land zu formu- lieren. Doch der vermeintliche Widerspruch besteht nur beim ersten Hinsehen. Auf den zwei- ten Blick löst er sich auf: Gerade deshalb, weil unsere kulturelle Prägung ihre Eindeutigkeit ver- liert, kann eine Selbstvermes- sung sinnvoll sein. Festzustel- len, wie geartet unsere Mehr- heitskultur heute (noch) ist, wä- re demnach ein lohnendes und anspruchsvolles Vorhaben.
ernst.sittinger@kleinezeitung.at
Er kenne das Grundgesetz, „das reicht“, meinte einst der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Kultur ist mehr als Recht, sie ist ein lebendiges Gebilde, das sich in der Praxis formt und verändert. Insofern wird so ein Leitbild nie abge- schlossen und „fertig erzählt“sein. Wesentlicher als die letz- ten Pinselstriche des Bildes ist die politische Frage, was man aus den gewonnenen Feststellungen ableiten will. Soll das Leitbild „leiten“, soll es Orientie- rung bieten? Als Referenzwert für was genau soll es dienen? Woran bemisst sich sein prakti- scher Wert?
Wer die Kultur-Erforschung als Ausschluss des Andersarti- gen betreibt, wird jedenfalls scheitern. Denn eine der tragen- den Säulen unseres Wertege- rüsts ist sein liberaler Zuschnitt, der Offenheit und Toleranz um- fasst. Zudem lässt schon unser
Rechtssystem, das Menschenrechte und Religionsfreiheit für alle sowie Wohnsitz-Freizügigkeit für viele garantiert, keine Brachial-Verdrängung „anderer“Kulturauffassungen zu.
Was wir dennoch brauchen, sind Umgangs- und Begegnungsformen, die das gedeihliche Zusammenleben in Vielfalt absichern. Wenn Zuwanderern aus anderen Kulturen deutlicher als bisher vermittelt wird, dass auch sie sich uneingeschränkt zu unseren Grundfreiheiten bekennen müssen, dann ist das wünschenswert. Und offenbar notwendig, wie Berichte aus Schulen und Kindergärten nahelegen. ie „Intoleranz gegenüber der Intoleranz“ist womöglich der Kernbestand dessen, worauf wir uns als Leitkultur einigen können. Ein bestimmtes Lebensmodell in religiöser oder ideologischer Hinsicht ist damit nicht verbunden. Den Parteien steht es frei, im Wahlkampf ein mit zusätzlichen Einschränkungen und Konturen versehenes WerteWeltbild zu propagieren. Das ist nicht nur zulässig, sondern willkommen. Aber mit „Leitkultur“soll man das nicht verwechseln.
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