„Ich bin wie ein Jesus auf Crack herumgelaufen“
Nach wie vor ist die Szene der Verschwörer groß. Stephan Bartunek war mittendrin – er zählte sogar Ken Jebsen zu seinen Freunden.
Stephan Bartunek schaut das Putin-Interview nach einer durchzechten Partynacht. Es ist früh am Morgen, ein Studienkollege hat den WDR-Beitrag mit dem russischen Präsidenten auf Facebook gepostet. 2014 ist das, Stephan Bartunek ist 36 Jahre alt und schon länger verunsichert: Die Gewalt um die Maidan-Proteste und die Krimannexion macht ihm Angst. Außerdem läuft es in der Beziehung als auch im Job als Schauspieler nicht gut. Als er Putin „so plausibel“die „Doppelmoral des Westens“kritisieren sieht, denkt sich der Wiener: „Er hat einen Punkt. So schlimm ist der ja gar nicht.“Das nächste Video, das ihm YouTube vorschlägt, zieht ihn in den Sog: „Der Krim-Krimi und die wahren Hintergründe“von Ken Jebsen. „Dann bin ich reingekippt.“
So wie es bei Stephan Bartunek war, ist es oft, sagt Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen. Die Meinungsmacher in der Szene der Verschwörungstheorien „nutzen Unsicherheit und Kränkung, schüren Misstrauen“. Corona bedeutete für sie Aufschwung – der geblieben ist: „Wir haben nur von ganz wenigen gehört, die sich ganz abgewendet haben.“Vor allem auf Telegram floriert die Parallelwelt nach wie vor, Rechtsextreme und „alternative Medien“profitieren davon, zeigt ein Bericht der Bundesstelle.
Stephan Bartunek hält am 5. Mai 2014 bei der zweiten „Friedensmahnwache“
in Wien eine Rede über Verantwortung, über die „Führungselite“. Jebsen teilt ein Video davon. „Danach ist mein Facebook explodiert.“Bartunek beteiligt sich an weiteren Mahnwachen, organisiert von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen. Er schreibt für „alternative Medien“wie „Rubikon“, gründet einen eigenen Blog. Er freundet sich mit Ken Jebsen an, den kontroversen Historiker Daniele Ganser holt er für Vorträge nach Wien. Er begegnet allen möglichen Verschwörungstheorien: Vom absichtlich konstruierten 9/11 über den
„white genocide“durch Flüchtlinge und bluttrinkende Eliten bis hin zu Eidechsenmenschen.
Oft geht es auch um
„böse Juden“und die Leugnung des Holocausts. „In die rechte Ecke war es ein kurzer Weg.“Bartunek habe immer versucht, „eher links zu bleiben“, sagt er. 2020 wird er in der Partei Soziales Österreich der Zukunft (SÖZ) aktiv. Bei den Coronademos spricht er sich gegen die Maßnahmen aus.
Sechs Jahre lang ist Stephan Bartunek mittendrin. Er hält zwar Kontakt zu seinem Sohn – er ist 2014 fünf Jahre alt – und zu seiner damaligen Freundin, aber vieles gibt er auf. „Ich war eigentlich Schauspieler und habe mich plötzlich als Missionar für die Aufklärung wiedergefunden. Ich habe mir die Haare und den Bart wachsen lassen, ich bin wie ein Jesus auf Crack herumgelaufen, völlig entrückt.“Ähnlich wie bei einer Sekte habe alles über die Gefühlsebene funktioniert: „Es heißt immer, die anderen lügen einen an.“
Doch dann zweifelt er. Dass der Hanau-Attentäter Verschwörungstheorien anhing, „war in der Szene nicht Thema oder es war Verständnis da“. Bartunek merkt: Stellt man sich gegen das Narrativ – glaubt man etwa an den Klimawandel –, kommen Anfeindungen. Dann fragt ihn ein Freund, was sich denn ändern würde, wenn die 9/11-Schwurbeleien wahr wären. „Ich habe überlegt: Na ja. Nichts.“Zur selben Zeit verliebt sich Bartunek. Und steigt schließlich Ende 2021 mit einer öffentlichen Nachricht aus. Aus der Szene kommt Hass. Bartunek denkt sich: „Scheiße, was habe ich getan.“Er will aufklären. In Videos rechnet er mit der Szene ab. Der 46-Jährige verdient sein Geld heute mit YouTube und Schauspielerei.
Expertin Schiesser hält Bartuneks Ausstieg für glaubwürdig. Es brauche meist mehrere persönliche Erfahrungen, „es ist schwer, sich einzugestehen, dass man falsch liegt. Und man verliert eine Gemeinschaft.“
Die Welt der Verschwörungstheorien brodelt. „Es gibt Leute, die diesen Widerstandsgedanken immer radikaler sehen, das geht in den Extremismus“, beschreibt Bartunek. Es werde „massiv gehetzt“, Schiesser ortet ein „hohes Aggressionspotenzial“und beobachtet „hasserfüllte Nachrichten“, etwa gegen LGBTIAQ+-Personen. „Das macht etwas mit der Atmosphäre in einer Gesellschaft. Es wird ein Boden bereitet, der sich entzünden kann, etwa bei der nächsten Krise. Bei Einzeltätern kann es kippen.“Schiesser sieht Handlungsbedarf: Der Staat müsse sich die Meinungsmacher genau anschauen, für sie ist die Szene auch Geschäft. Und man sollte allen Altersgruppen Medienkompetenz vermitteln.
Bartunek ist froh, dass er den Absprung geschafft hat. „Mein Sohn wird bald 16. Ich hätte ihm womöglich ein völlig falsches Weltbild vermittelt.“