Wie makellos müssen Politiker sein?
Kontr@ Ein Wortgefecht ohne Sichtkontakt. Die Kontrahenten sitzen vor ihren Laptops, schärfen Argumente und gehorchen drei Regeln:
MICHAEL FLEISCHHACKER:
Niemand muss makellos sein, niemand kann makellos sein, auch und gerade Politiker nicht, aber wenn wir diese Frage im Kontext der „Affäre Schilling“diskutieren, würde ich gerne festhalten, dass wir hier nicht über Makellosigkeit sprechen, sondern über strafrechtlich relevante Sachverhalte. Also: Keine Politikerin muss makellos sein, aber irgendwo zwischen Makellosigkeit und Delinquenz könnte man sich schon einpendeln.
Richtig. Mich überkommt bei der allgemeinen Mutmaßerei über gefühlte Gefühle vor allem das Gefühl, nicht auch etwas dazu beitragen zu wollen. Aber Dienst ist Dienst, und Unlust in der Publizistik, der man nachgibt, würde die Medien kahl fegen. Jedoch auch bei „strafrechtlich relevanten Sachverhalten“, ich möchte ergänzen, auch bei zivilrechtlich relevanten Sachverhalten gilt, dass solche Sachverhalte zuerst einmal erwiesen sein müssten.
ARMIN THURNHER: FLEISCHHACKER:
Die Verurteilung der Vorverurteilung höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Am Ende ist es in diesem Fall doch so wie in allen Fällen: Schätzen wir jemanden, verurteilen wir die Vorverurteilung, schätzen wir jemanden nicht, vorverurteilen wir, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht hat Sie das Thema, das man uns gestellt hat, auch an Philip Roth erinnert, lieber Thurnher: „The Human Stain“, „Der menschliche Makel“. Es ist eine sehr verwickelte Geschichte, viele Menschen haben viel zu verbergen, und vor allem: Der Mensch ist mit dem Unreinen kontaminiert und er kontaminiert damit seinerseits alles, was mit ihm in Berührung kommt, auch wilde Tiere.
Ja, das ist eine durchaus christliche Vorstellung oder auch eine anthropologische Konstante. Vielleicht können wir doch etwas näher beim Fall bleiben, ohne deshalb die Protagonistin selbst beurteilen zu müssen. Niemand muss makellos für
THURNHER:
ein Amt sein, aber im Augenblick kommt es einem eher so vor, als würden Makel nicht stören, sondern geradezu für Ämter qualifizieren. Wenn sie durch etwas aufgewogen werden, was man Charisma nennen kann. Ich denke an Donald Trump: Makel all over, und er wird von seinen Anhängern geliebt, nicht obwohl, sondern weil er ein Gauner ist.
Dann bleiben wir vielleicht doch gleich bei Lena Schilling. Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich kenne einige Aktivistinnen ihrer Alterskohorte und ich verfolge den ökologischen und sozialen Aktivismus der jungen Linken in den sozialen Medien. Der
FLEISCHHACKER:
Gesamteindruck, der sich daraus ergibt, ist der eines hochgradig toxischen Milieus, dessen Toxizität, glaube ich, ganz ähnliche Grundlagen hat wie die Toxizität des Trumpistenmilieus: Wer sich berufen sieht, „das System“zu zerstören, sei es die politische Klasse von Washington DC oder den weltzerstörerischen Kapitalismus, der fühlt sich auf einer sehr prinzipiellen Ebene nicht mehr an die Regeln gebunden und verliert dadurch sein herkömmliches Unrechtsbewusstsein.
Ich bin dafür, das Wort „toxisch“der Pharmazie zu belassen. Soziopathisch finde ich besser. Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, kann
Gründer und Herausgeber der Wiener Stadtzeitung „Falter“, Autor von Essays, Romanen und Kochbüchern, Musik-, Diskurs- und überhaupt Liebhaber
THURNHER:
wird von Kleine-Zeitung-Chefredakteur Hubert Patterer vorgegeben, von Fußball bis Raumfahrt ist alles möglich. aber nicht mit völliger Zustimmung dienen. Denn ein Widerstandsrecht kann man auch daraus ableiten, dass man eben meint, eine gewisse Spielart des Kapitalismus, zum Beispiel die von Trumpisten bevorzugte rechtslibertäre, sei darauf angelegt, „das System“, nämlich die normalkapitalistische Demokratie, zu zerstören. Sie haben recht, wenn sich jemand, wie zum Beispiel ein Terrorist oder ein Reichsbürger, ausdrücklich aus dem System herausnimmt. Herbert Kickl redet ja von etwas anderem, wenn er „Süstähm“sagt: Er möchte es nur gerne für sich noch besser nutzen, das Süstähm. Ich kenne Frau Schilling wird abwechselnd erteilt, genauso das letzte. Endlich kann geklärt werden, was wichtiger ist. übrigens auch nicht persönlich, vielleicht ist das in Zukunft überhaupt ein nützlicher Disclaimer.
FLEISCHHACKER:
Ich war auch nie ein Freund des Begriffs „toxisch“, habe meine Meinung aber geändert. Nicht weil ich dächte, dass Begriffe wie „toxische Männlichkeit“besonders viel Sinn ergeben, aber weil mir scheint, dass er für die Bezeich- nung von Milieus sehr geeignet ist. Toxische Milieus sind, biologisch und sozial, vergiftete Umgebungen, in denen nachhaltig nichts wachsen und gedeihen kann, in denen sich aber ziemlich viel tut, eine Art permanente Giftschaumschlägerei. Und was die Zerstörungswird streng geteilt: Jeder hat gleich viel Platz, es sei denn, einer verzichtet zugunsten des anderen. potenziale des rechtslibertären Kapitalismus und des Widerstands gegen ihn betrifft: Ich glaube nicht, dass der Unterschied zwischen Zynismus und Naivität besonders groß ist, was den Schaden betrifft. Der Rest ist Gefühl, wie Sie eingangs richtig bemerkt haben.
Na ja, ich fürchte, die römische Aristokratie betrachtete das frühe Christentum als urtoxisches Milieu. Aber so kommen wir nicht weiter. In der uns gestellten Frage steckt die Frage nach der moralischen oder charakterlichen Qualifikation für ein politisches Amt, und da würde ich die These wagen, dass die alten Ochsentouren in der Politik und das langsame Hinaufklimmen von Hierarchien in der Wirtschaft zumindest den Vorteil mit sich brachten, dass man einigermaßen wusste, mit wem man es zu tun hat. Die Öffentlichkeit und das Spitzen- amt selbst können sich dann als Wahrheitsdroge erweisen, die den politischen Charakter glänzen lässt oder ihn vergiftet.
THURNHER: FLEISCHHACKER:
Michael Fleischhacker, nach Stationen bei der Kleinen Zeitung und beim „Standard“2004 bis 2012 Chefredakteur der „Presse“, jetzt freier Publizist und „Talk im Hangar-7“-Moderator bei Servus TV
Sie haben recht, der Charakter erweist sich erst dann, wenn er sich gemeinsam mit der Macht entfalten kann. Und man kann, das von Ihnen ins Spiel gebrachte Christentum hat es erwiesen, davon ausgehen, dass das Bewusstsein des Auserwähltseins, das während der Zeit der Unterdrückung für glanzvolle Opferkarrieren sorgt, seine Träger mit der Machtergreifung zur Höchstform der Despotie auflaufen lässt.
Also muss man doch fragen, welche Auswahlkriterien eine Demokratie hat, um solche Höchstformen zu vereiteln und dennoch nicht Durchschnitt zu bevorzugen.
Ich denke, die Verblendung über Charaktere wirkt besonders dort stark, wo diese ihrer Außenwirkung wegen gewählt oder für ein Amt vorgeschlagen werden. Dann ist das Erwachen besonders bitter, sei’s bei Schilling, sei’s bei Sebastian Kurz.
Die Philosophen sagen, dass Enttäuschung eine Funktion der Erwartung sei, allerdings haben wir alle nichts davon, wenn wir unsere Enttäuschungsresistenz durch Erwartungslosigkeit stärken. Ein bisschen mehr Realismus in Bezug auf den menschlichen Makel würde uns also nicht schaden und im gegenständlichen Fall gilt das wohl vor allem für die Parteispitze der Grünen.
Realismus zu fordern, ist sicher berechtigt. Das würde aufseiten der Öffentlichkeit auch beinhalten, das Gefühl für Verhältnismäßigkeit zu entwickeln. Es gibt Skandale, von denen redet man zu wenig, und es gibt Affären, die blasen sich auf wie Frösche. Aber auf Realismus und auf Verhältnismäßigkeit können wir wohl lange warten.