Das friedliche Europa
Jahrhundertelang waren Kriege aus Europa nicht wegzudenken. Die Zähmung der Gewalt ist eine relativ junge zivilisatorische Leistung, der Frieden ein fragiles Gut.
ir stolpern in den zweiten Raum, in dem sich das friedliche Europa darbietet. Ein beruhigendes Gemälde von Cas- par David Friedrich, mit Hinter- gründigkeit. Natur und Kultur, Mensch und Kosmos in Harmo- nie. Eine Installation themati- siert die vielen offenen Grenzen innerhalb des Kontinents. Leise erklingt die Ode an die Freude. Europa hegt kaum zwischen- staatliche Hassgefühle oder Verdächtigungen. Der Konti- nent hat sich weitgehend he- rausgearbeitet aus der Atmosphäre historisch üblicher Ge- waltsamkeiten. as war nicht immer so. Über Jahrhunderte sehen wir eine gewalttätige Gesellschaft vor uns. In der alten Zeit war der Tod immer gegenwärtig, schon we- gen der Krankheiten und Unfäl- le und wegen einer eher spinti- sierenden als leistungsfähigen Medizin. Bewaffnete Banden, Räuber oder Armeen: Brand- schatzung, Vergewaltigung, Quälerei. Der Tod war immer na- he. Freude an der Gewalt: Öffent- liche Hinrichtungen waren im Mittelalter Volksfeste, die oft auf dem Marktplatz stattfan- den; und die Kinder setzte man sich auf die Schultern, damit sie besser zum Galgen sehen konn
WDten. Menschen sind sadistisch vorgegangen, gegen Hexen, Sek- tierer, Abweichler. Familiäre Ge- walt war der Normalfall, die Züchtigung von Kindern, ge- walttätige Übergriffe gegen Frauen und sexuelle Übergriffe gegen das Dienstpersonal. Euro- pa hat einen langen Entwick- lungsprozess vollzogen, sich von dieser gewalttätigen Men- talität zu distanzieren. Kriege gab es, wann immer sich eine Gelegenheit bot. ittlerweile haben die Euro- päer Sensibilität entwi- ckelt. Europa ist sich einig in der Ablehnung der Todesstrafe, im Unterschied zu Amerika und vielen anderen Ländern. In den letzten Jahrzehnten wurde Sorgsamkeit bei der Gewalt ge- gen Kinder, Frauen und Minder- heiten erarbeitet. Und wir haben vor allem die Erfahrung eines Dreivierteljahrhunderts der po- litischen Friedlichkeit machen dürfen: ein außergewöhnlicher Zustand der Menschheitsge- schichte. Der Frieden wurde wohl geboren aus der Vernich- tungsorgie in der vorigen Jahr- hundertmitte, aus der Erfah- rung des Totalitarismus und aus dem kollektiven Schuldbe- wusstsein, und die Friedenszeit wurde unterbrochen durch die
MBalkankriege sowie beendet durch den Angriff auf die Ukraine. Das ist, so traurig es klingt, eine gewisse „Normalisierung“der Verhältnisse. ie Statistiken über Gewaltsamkeit zeigen uns für Europa (vom derzeitigen östlichen Rand abgesehen) trotz des globalisierten Terrors eine weiterhin abnehmende Zahl von Gewalttoten. Wenn man aber einen einzelnen Indikator für Qualität und Lebensstandard einer Gesellschaft nehmen möchte (auch für die „strukturelle Gewalt“), dann ist die Lebenserwartung eine brauchbare Kennzahl. Die Lebensbedingungen (von der Nahrungsversorgung bis zur medizinischen Betreuung) haben einen vordem undenkbaren Lebensverlauf ermöglicht, zunehmend über die eigentliche biologische Leistungsspanne der Körper hinaus, und nach der Mitte des Jahrhunderts sollen wir, wenn nichts Schreckliches geschieht, für unser Leben die Ziellinie bei hundert Jahren setzen dürfen. Es ist ein (demografisch) „altes Europa“, aber im Hinblick auf die Lebenserwartung ist es eine freudige Nachricht – auch wenn wir ein bisschen mehr Nachwuchs brauchen könnten.
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30. 5. 6. 6. 14. 6. 22. 6.