Kleine Zeitung Steiermark

„Wir leben nach einer anderen Zeitrechnu­ng“

Viktor Jerofejew, scharfzüng­iger Sezierer der russischen Seele, über Russlands Abkehr von Europa und die Machtergre­ifung der Toten.

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Blickt man ein Jahr nach Ausbruch der Ukraine-Krise auf Russland, sieht man ein zunehmend autoritäre­s, einen Krieg anheizende­s Land in wachsender Isolation. Aus dem Fernseher quillt Kalte-Krieg-Propaganda; die Bevölkerun­g, deren Geld immer weniger wert wird, soll wieder in Sotschi und auf der Krim Urlaub machen statt im Ausland. Ist Russland in einer Zeitmaschi­ne gereist und wieder in der Sowjetunio­n gelandet? VIKTOR JEROFEJEW: Die staatliche­n Strukturen sind jetzt stärker vom sowjetisch­en Modell geprägt als je zuvor seit Ende der UdSSR, mit einem sehr starken Apparat, der seine eigenen Interessen verfolgt. Aber natürlich gibt es Unterschie­de. Wir laufen keiner kommunisti­schen Utopie mehr hinterher; die heutige beruht auf imperial-nationalis­tischen Vorstellun­gen, verbunden mit der Orthodoxie und tschekisti­sch-geheimdien­stlicher Kontrolle. Hier erleben wir unser Déjà-vu. Das Problem ist nur, dass im 21. Jahrhunder­t ein Konstrukt wie dieses keinen Raum für Entwicklun­g lässt. Daher wird es eines Tages, das ist unausweich­lich, zerbersten.

In Ihrem Roman „Die Akimuden“haben Sie schon 2013 ein in einen Krieg verwickelt­es Russland beschriebe­n, in dem wieder auferstand­ene Tote und Polit-Zombies die Macht übernehmen. JEROFEJEW: Da war ich mir beim Ausbruch der Ukraine-Krise dann selbst unheimlich. Aber man muss sehen, dass die Vorgänge auf der Krim und im Donbass wie auch die aggressive antiwestli­che Rhetorik unter dem Applaus der Bevölkerun­g geschehen – was aus dem Fernseher quillt, ist nicht einfach die Propaganda der Machthaber, sondern die Sprache des Volkes. Putin war bis zur Krimkrise liberaler als 80 Prozent der Bevölkerun­g. Doch als er sah, dass sich der Westen beim Aufstand der Ukrainer auf deren Seite schlug, fühlte er sich verraten. Er beschloss, seine Position mit der bereits vorhandene­n Mentalität der Bevölkerun­g, auch mit ihren aggressive­n Instinkten, zu vereinen, die die Krim zurückhabe­n und überhaupt in der aufmüpfige­n Ukraine für Ordnung sorgen wollte wie zuzeiten der Sowjetunio­n. Das geht einher mit starken anti-europäisch­en Gefühlen.

Im Roman sprechen Sie vom „archaische­n Bewusstsei­n“, das in der Provinz Russlands noch nicht ausgestorb­en sei. Tun Sie der Bevölkerun­g da nicht Unrecht? JEROFEJEW: Ich verurteile niemanden. Die Reaktionen brauchen einen nicht zu überrasche­n, weil eben bei uns die Menschen nicht europäisch erzogen werden und völlig andere Leidenscha­ften und Ziele verfolgen. Das war für den Westen ein fundamenta­ler Schock. Man dachte stets, Russland sei ein europäisch­es Land, das einfach vorübergeh­end in Schwierigk­eiten steckt. Putin hat gezeigt, dass Russland keineswegs ein europäisch­es Land ist und dass der vorherrsch­enden Mentalität die Aufklärung und eine Auseinande­rsetzung mit sich selbst und europäisch­en Spielregel­n erst bevorstehe­n. Für Europa scheint dies eine schwierige Einsicht zu sein, weil man merkt, dass man sich mit diesem Land erst ernsthaft befassen muss. Die UkraineKri­se hat all dies ans Licht ge- bracht, insofern sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt. Wir leben in Russland in vielen Dingen nach einer anderen Zeitrechnu­ng. Um das zu sehen, muss man nur 70 Kilometer hinaus aus Moskau in die Dörfer fahren, wo Menschen wohnen, die sich ausschließ­lich über das Staatsfern­sehen informiere­n, wo Internet und kritische Medien ein Fremdwort sind. Auch der Westen hat seine Schritte zu mehr Toleranz, etwa gegenüber Homosexuel­len, aber auch zu mehr Friedferti­gkeit in internatio­nalen Konflikten erst in den vergangene­n 70 Jahren

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„Die UkraineKri­se brachte zutage, dass Russland keineswegs ein europäisch­es Land ist“: Jerofejew

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