Er sieht sein Lebenswerk bedroht
Vor 30 Jahren kam Gorbatschow an die Macht – und veränderte die Welt.
Möge er recht behalten. „Glasnost ist nicht tot, auch die Demokratie ist in Russland nicht tot. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen“, meinte Michail Gorbatschow noch Anfang Jänner. Inzwischen wurde die letzte laut vernehmbare Oppositionsstimme, Boris Nemzow, in Kreml-Nähe aus dem Weg geschossen, und die Staatspropaganda wusch auch dieses Verbrechen weich. Heute vor 30 Jahren übernahm Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU in der Sowjetunion die Macht. Die Kugeln in Nemzows Rücken galten all jenen, die für Werte wie Glasnost – Offenheit und Transparenz – auf die Straße gingen. Werte, auf deren Basis Gorbatschow damals hoffte, das verknöcherte Sowjetreich modernisieren zu können. Perestrojka, Umbau, war das zweite große Schlagwort, für das der 84Jährige heute noch steht. Vor al- lem machtpolitisch, so zeigt sich dieser Tage, sind Gorbatschows ideologische Gegner von damals wieder mit Rückbau beschäftigt.
Leichte Zeiten erlebt der Mann, der den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, der die Abrüstungspolitik einleitete und den Warschauer-Pakt-Staaten ihre Souveränität zurückgab, derzeit nicht. Das Gehen fällt ihm zunehmend schwer, im Herbst musste er ins Spital, und politisch sieht er sein Vermächtnis, die Beendi- gung des Kalten Krieges und die Entspannung zwischen Ost und West, im Zuge der Ukraine-Krise zunehmend bedroht. Allerdings: „Gorbi“, wie ihn im Westen viele nennen, macht dafür weitaus mehr Europa und die USA verantwortlich als Putin. Und das mit Worten, die manchmal für Verstörung sorgen: Die Annexion der Krim verteidigte er ohne Vorbehalt, die USA nannte Gorbatschow im Oktober „eine große Seuche“. Auch wenn er Putins autoritäres Vorgehen gegen die Opposition kritisiert: Den Krieg in der Ukraine trägt der Friedensnobelpreisträger von 1990 mit.
Zu Hause in Russland gilt er vielen als Verräter und Totengräber der Sowjetunion – obwohl er deren Ende nie wollte: „Mir tut es heute noch leid, dass ich das Schiff, an dessen Steuer ich stehen durfte, nicht in ruhige Gewässer habe lenken können“, bedauert Gorbatschow.