„Wenn man gesundist, soll man arbeiten“
Der deutsche Arbeitsmarkt-Reformer Peter Hartz spricht über Jugendarbeitslosigkeit, flexible Job-Modelle und die Frage, ob Arbeit in jedem Fall eine Bereicherung des Lebens ist.
Ihr Name ist untrennbar mit den deutschen Arbeitsmarktreformen („Hartz IV“) in den Jahren ab 2002 verbunden. Wurde damals alles richtig gemacht oder gab es auch Fehleinschätzungen? PETER HARTZ: Unter dem Strich war die Reform ein Erfolg. Sie kam allerdings anders aus dem Parlament heraus als von uns vorgeschlagen. Wir hätten das gerne zentraler organisiert.
Bei Gegnern steht „Hartz IV“als Code für Sozialabbau. Sehen Sie einen überzogenen Sozialstaat? HARTZ: Nein. In einer Gesellschaft muss man sicherstellen, dass jeder ein menschenwürdiges Mindesteinkommen hat.
Der Hartz-Regelsatz lag anfangs bei nur 359 Euro monatlich . . . HARTZ: Nach unserem Vorschlag hätten das 511 Euro sein sollen. Man darf nicht vergessen, dass zusätzlich noch die Miet- und Heizkosten bezahlt werden.
Deutschland ist heute das Musterland auf dem Arbeitsmarkt. Was kann anderen Ländern als Vorbild dienen? HARTZ: Eine Leitidee war, dass wir die Zumutbarkeit beim Annehmen einer Arbeit neu definiert haben, und zwar nicht nur geografisch, sondern auch funktio- nal und sozial. Es wird von einem jungen Alleinstehenden mehr Mobilität erwartet als von einem Familienvater.
Europa stöhnt unter der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Welches Rezept schlagen Sie vor? HARTZ: Man muss mit einem ganz neuen Ansatz kommen. In der Betreuung von Arbeitslosen sollen nicht die Vermittlungshindernisse im Vordergrund stehen, sondern die Talente. Es geht also um Talente-Diagnostik. Durch moderne Software und Big Data sind wir heute viel besser dazu in der Lage, die Talente der arbeitslosen Jugendlichen zu messen und festzustellen. Das muss man dann mit dem Arbeitsmarkt und den freien Stellen abgleichen.
In der Regel scheitert es ja nicht am Talent, sondern daran, dass sich die Arbeitswelt so rasch ändert, dass es für erlernte Berufe plötzlich keinen Bedarf mehr gibt. HARTZ: Wenn es für ein Talent keine Nachfrage gibt, dann müssen sie eben eine andere Tätigkeit aufnehmen, die immer noch in ihren Talentekreis passt. Wir haben in unseren Modulen 1200 Berufe erfasst, daraus kann man für jeden Einzelfall ein Ranking erstellen. Alle Menschen haben Talente – auch jene mit einem gebrochenen Lebenslauf.
Leiten Sie daraus die Forderung ab, dass auch jeder für sein Geld arbeiten soll? HARTZ: Wenn man gesund ist, soll man arbeiten. Ein bisschen Ar- beit ist besser als gar keine. Daher haben wir seinerzeit die Minijobs entwickelt –die sollen ein Aufbau sein, um wieder Arbeit zu finden. Denn aus der Hirnforschung wissen wir, wie verheerend sich die Einstellung von Langzeitarbeitslosen ändert. Der Mensch stellt sich auf jede Situation ein. Wer lange ohne Arbeit ist, dem passiert das, was Experten die „erlernte Unsicherheit“nennen.
Bietet unser System überhaupt genügend Anreize, um jeden zu motivieren, eine Leistung zu erbringen? HARTZ: Man darf die Arbeit nicht als Last ansehen, sondern als Lust und Herausforderung. Das hat auch mit Würde zu tun. Mir ist schon bewusst, dass es aus der Sicht eines Arbeiters im Steinbruch zynisch klingt, wenn man das vom Schreibtisch aus verkündet. Aber man muss eben differenzieren. Wichtig ist, dass jeder Mensch eine Perspektive hat. Es gibt Lebenszyklen. Kein Mensch wird bis ins hohe Alter täglich körperliche Schwerarbeit verrichten.
In Europa ist von Deindustrialisierung die Rede. Gibt es künftig genug Arbeitsvolumen, um unseren Wohlstand zu sichern?