Vorräte der Griechen
Leere Regale in Supermärkten und Apotheken. Dafür stehen viele für neue Pässe Schlange. Sie wollen weg – in der Stunde der Entscheidung.
Millionen, Millionen“ruft Manolis. Der Losverkäufer steht am Ausgang der UBahn-Station Omoniaplatz in Athen. An einer langen Holzlatte bietet er seine Lose feil – kleine, bunt bedruckte Zettel des „Ethniko Lacheio“, der staatlichen Nationallotterie. Jedes Los trägt eine eingeprägte Nummer und eine Art Gütesiegel der Republik. Wer zehn Euro für ein Los lockermacht, hat die Chance auf den Hauptgewinn von zwei Millionen Euro. Aber Manolis findet in diesen Tagen kaum Interessenten. „Die Menschen sind verunsichert, sie haben Angst vor dem, was kommt.“Aber was kommt?
In der Villa Maximos, dem Amtssitz von Alexis Tsipras, folgt eine Krisensitzung auf die andere. Es sind die Stunden der Entscheidung. Mit seinen Vertrauten brütete der Regierungschef seit Tagen über jenem Papier, das er den Vertretern der Gläubiger in Brüssel bis Mitternacht vorlegen musste: eine Liste von Reformen und Sparmaßnahmen, die für Griechenland die Tür zu einem dritten Hilfspaket öffnen soll. Nach den seit 2010 schon bereitgestellten 240 Milliarden Euro geht es nun um geschätzt weitere 50 bis 60 Milliarden für drei Jahre.
Morgen sollen die Finanzminister der Euro-Gruppe entscheiden, ob die Vorschläge eine tragfähige Grundlage für Verhandlungen über ein weiteres Hilfspaket sind. Geben sie grünes Licht, muss der für Sonntag geplante EU-Sondergipfel womöglich nicht stattfinden. Fallen die Griechen erneut durch, wird es für die Staats- und Regierungschefs nur noch darum gehen, Griechenland aus dem Euro zu verabschieden. Dies sei „die allerletzte Chance“, sagt Oppositionspolitiker ros Theodorakis.
„Die letzte Chance – wie oft haben wir das schon gehört?“, versucht sich Ioannis Voulgaris zu erinnern. Der Mittsechziger betreibt ein Schmuckgeschäft an Athens beliebtester Einkaufsmeile. Voulgaris sitzt in einem Ledersessel in der hinteren Ecke seines Geschäfts bei einem Mokka. Aufstehen muss er in diesen Tage selten. „Gestern hatte ich vier Kunden in zehn Stunden“, sagt er. „Es waren Touristen – wenigstens die kaufen.“Griechen kommen kaum noch in seinen Laden, seit die Banken am vergangenen Montag zumachten. Erst war von wenigen Tagen die Rede. Daraus wurden zwei Wochen. Jetzt bleiben die Geldinstitute noch bis mindestens Montag zu. „Ein Land ohne Banken – wie soll das gehen?“, fragt der Schmuckhändler. Voulgaris hat schon viel mitgemacht. Zum Beispiel die Unruhen vom Dezember 2008, als nach dem Tod eines Schülers durch eine Polizeikugel in Athen nächtelang Banken und Geschäfte brannten. Oder die schweren Straßenschlachten vom Frühjahr 2012. Unzählige Male musste Voulgaris seine zertrümmerte Schaufensterscheibe ersetzen. „Aber diesmal geht es um alles.“
Wie groß die Angst der Menschen ist, kann man auch in den griechischen Supermärkten beobachten. Viele Regale mit Grundnahrungsmitteln sind inzwischen leer. Engpässe gibt es auch beim Fleisch. Drei Viertel des Bedarfs werden importiert. Aber wegen der Kapitalkontrollen stocken die Einfuhren. Auch in den Apotheken werden manche Medikamente knapp – „vor allem weil die Menschen in Sorge sind und Arzneimittelvorräte an-
Stav- legen“, wie ein Apotheker im Stadtteil Neos Kosmos erklärt. Von den rund 12.000 Präparaten, die in Griechenland zugelassen sind, müssen etwa drei Viertel importiert werden. Noch gibt es nach Aussage des Verbandes der Pharmaindustrie ausreichende Lagerbestände. Aber die könnten bald zur Neige gehen, wenn die Kapitalverkehrskontrollen nicht gelockert werden.
Auch in den speziellen Polizeidienststellen, die für die Ausstellung von Reisepässen zuständig sind, herrscht größerer Andrang als sonst. In Urlaub fahren wollen die wenigsten. Kaum ein Grieche denkt an Ferien oder hat Geld für eine Reise. Viele wollen einfach nur noch weg aus diesem Land – für immer. Während der fünf Krisenjahre haben bereits über 200.000 junge Griechinnen und Griechen ihre Heimat verlassen. Jetzt setzt ein neuer Exodus ein. Waren es in den 1960er- und 70er-Jahren vor allem ungelernte Arbeiter aus dem armen Norden Griechenlands, die nach Westeuropa gingen, so sind es jetzt überwiegend gut ausgebildete, hoch motivierte Fachkräfte und Akademiker, die ihrem Land den Rücken kehren, weil sie dort keine Zukunft sehen.