Michelangelo ist dem Menschen zumutbar
Wer seine Kultur versteckt, verpfändet seine Haltung.
Feigenblätter haben einen schlechten Ruf. Und das zu Recht, denn sie tauchen immer dort auf, wo Verklemmtheit, Prüderie und Zensur zu Hause sind. In München gab es vor Jahren eine „Feige(n)blatt“-Ausstellung, in der dokumentiert wurde, wie die Kunst jahrhundertelang in unserer Hemisphäre mit botanischen und nichtbotanischen Utensilien verunstaltet wurde –
Das berühmteste Beispiel ist wohl Michelangelos „Jüngstes Gericht“in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Was für ein Skandal, als das Wandgemälde Mitte des 16. Jahrhunderts enthüllt wurde: So viel Nacktheit, bloß zur Schau gestellt!
Vom Zeremonienmeister des damaligen Papstes, Biagio da Cesena, weiß man, dass er Michelangelos Gemälde für eine Badestube oder ein Wirtshaus geeignet hielt, aber für eine Papstkapelle sicher nicht.
Papst Paul IV. wollte Michelangelos Gemälde später vernichten lassen, gab glücklicherweise aber doch seinen Ratge- bern nach, die für eine Übermalung der „Stellen“plädierten, die später wieder mühsam rerestauriert werden mussten. Oft reichten Feigenblätter –
–, häufig kamen Gewänder dazu, wie bei Dürer oder Cranach.
Aber heute werden gleich ganze Schränke gebaut, unter denen Skulpturen versteckt werden. Wie jetzt in Rom anlässlich des Besuchs des iranischen Präsidenten Hassan Rohani, wo aus Rücksicht auf den Schiiten nackte antike Skulpturen in den Kapitolinischen Museen hinter Schrankwände kamen. Wäre das alles nicht so schrecklich, man müsste laut lachen. Ja, geht’s noch? uropas Kunstgeschichte ist voll von Nackten. Von Botticelli über Schiele bis
Eherauf zu Erwin Wurm oder Elke Krystufek. Auch das ist Europas DNA. Die zu verstecken ist nicht nur peinlich, sondern schlichtweg dumm. Die Zeit der Feigenblätter ist passé. Umso schlimmer, wenn just im Kulturland Italien die Kunst, das Erbgut, verhüllt wird. Ob in Erwartung guter Geschäfte oder aus falsch verstandener Toleranz gegenüber anderen: Wer seine Kultur versteckt, verpfändet seine Haltung und verliert damit den Halt.
Sensibilität im Umgang mit Gästen ist selbstverständlich und letzten Endes nicht so sehr eine Frage der Kultur, sondern des Anstands. Doch auch ein Gast muss ertragen, dass in der Fremde nicht alles gleich ist wie daheim. Das weiß jeder, der vor die Tür geht. Für den iranischen Präsidenten wie für alle anderen Gäste in Rom und anderswo gilt daher das abgewandelte kluge Wort der Dichterin: Michelangelo ist dem Menschen zumutbar. Sie erreichen die Autorin unter manuela.swoboda@kleinezeitung.at