„Steinschlag, nicht Stillstand“
Der Schriftsteller Robert Menasse sieht keinen Stillstand, sondern unzählige Reformen in die falsche Richtung.
SINTERVIEW eit Jahren werden in Kommentaren zur Innenpolitik „Stillstand“und die „Reformverweigerung“kritisiert. Was ist der Grund für diese versteinerten Verhältnisse? ROBERT MENASSE: Ich sehe keine Versteinerung. Höchstens einen Steinschlag. Es kommt ja offensichtlich vieles ins Rutschen. Ich hätte innenpolitisch nichts gegen mehr Stillstand. Wir erleben doch seit einiger Zeit eine schleichende Verschlechterung in vielen Bereichen. Und Reformverweigerung kann man der Regierung nicht vorwerfen – sie macht ja Reformen. Das Problem ist: „Reform“ist grundsätzlich ein positiv besetzter Begriff, aber deswegen sind nicht alle Reformen automatisch positiv. Manches wäre besser, und der „Stillstand“glücklicher, wenn eine Reihe von „Reformen“nicht gemacht worden wäre. Worunter wir innenpolitisch leiden, ist also nicht der Stillstand, sondern die Raserei von schlechten Reformen nur um der Reform willen.
Woran denken Sie? MENASSE: Woran auch Sie denken! Woran die Mehrheit der Österreicher denkt. Sie wissen doch: Was immer die Regierung beschließt, danach ist es komplizierter und für viele schlechter. Zugleich schwirren augenblicklich die blöden Phrasen durch die Gegend: dass die Politiker sich vor unpopulären Entscheidungen fürchten – ja offenbar nicht, denn sonst hätten sie das nicht soeben beschlossen. Oder: dass Stillstand herrscht – ja offenbar nicht, sonst hätte es diese Entscheidung nicht geben können. Es gibt, um ein Beispiel zu nennen, seit dreißig Jahren eine stete Verschlechterung des Bildungssystems – sie wurde durch Reformen vorangetrieben und ist nicht Folge von Stillstand.
Sie sagen, manche Reformen wären besser nicht gemacht worden – viele Reformen waren ja notwendig, weil das System sonst nicht mehr finanzierbar wäre. MENASSE: Noch kein Ökonom hat schlüssig erklären können, warum am historisch höchsten Stand der gesellschaftlichen Produktion von Reichtum etwas nicht mehr finanzierbar sein soll, was dreißig Jahre vorher auf einem niedrigeren Stand der Produktivität selbstverständlich finanzierbar war. Es ist keine Frage der Finanzierbarkeit, sondern der Verteilung. Ein Beispiel: die Steuerreform. Wir reden von Stillstand, obwohl es jetzt auch diese Steuerreform gab. Eine kleine Entlastung wurde mit einem so komplizierten und rigid kleinlichen System der Gegenfinanzierung erkauft, dass diese Lösung mittelfristig eher zu sozialer Unzufriedenheit und Ressentiment führen wird als zu Wählerdankbarkeit. Zugleich sehe ich viel zu wenig Engagement in Hinblick auf eine gemeinsame europäische Fiskalpo- litik. Die wäre höchst notwendig. Vieles ist ja nur deshalb nicht mehr finanzierbar, weil die Staaten der Union sich fiskalpolitisch gegenseitig niederkonkurrieren oder sich an gar keine Regeln halten. Wenn wir über Innenpolitik diskutieren, müssen wir erst einmal klarmachen: Unter Innenpolitik müssten wir heute Europapolitik verstehen.
Eine österreichische Regierung richtet in Brüssel wenig aus. MENASSE: Sie richtet wenig aus? Ich finde, sie richtet genug an. Der österreichische Außenminister unterstützt den britischen Premier dabei, mit immer mehr Ausnahmeregelungen die Gemeinschaft zu zerschlagen. Die österreichische Innenministerin legt in Brüssel ein Veto gegen eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ein und beschwert sich dann zu Hause, dass sich „die EU“nicht bewegt. Der österreichische Finanzminister fordert mehr Steuermoral von den Griechen, aber er tut nichts gegen die fehlende Steuermoral der Konzerne in Österreich. Die politisch Verantwortlichen fürchten sich nicht vor den Wählern, die sie immer noch glauben, mit simplen Phrasen und Inseraten „abholen“zu können, sie fürchten sich vor dem wirklichen „Souverän“, den Konzernen. Was die Konzerne aufgrund der europäischen Steuerkonkurrenz nicht zahlen, fehlt natürlich in jedem nationalen Budget, für Soziales, für Bildung, für Gesundheit, für Pensionen. Nein, es gibt keinen „Stillstand“, es gibt eine ganz dynamische, systematische, politische Reformentwicklung, die das Leben der meisten verschlechtert, und die denen, denen es schlechter geht, ein Angebot macht: Wir wissen, dass ihr leidet, wir wissen, dass ihr unzufrieden seid. Wir bieten euch einen Blitzableiter für eure Wut an: die, denen es noch schlechter geht, die Ärmsten, die Flüchtlinge und Ausländer! Tretet auf sie hin und wählt uns!
Sie sehen also Innenpolitik bloß als Ablenkungsspektakel? MENASSE: Nein, die Regierung lenkt nicht ab, ich fürchte, sie weiß es nicht besser. Der Nationalismus wächst und damit eine immer radikalere Konzentration auf nationale Scheinlösungen. Das ist die ganze Innenpolitik. Wohin ein immer trotzigerer, herrischer Nationalismus führt, könnte man aus der Geschichte wissen. Und er wird auch diesmal kein Problem lösen, sondern immer größere Probleme produzie-