Kleine Zeitung Steiermark

Moral in der Politik: „Na, vergess’ ma’s“

Was Faymann einst empörte, ist nun rote Doktrin.

- MICHAEL JUNGWIRTH

Werner Faymann fuhr Sonntag spätabends lieber auf den Küniglberg statt nach Saalfelden. Im Salzburgis­chen hätte sich der Kanzler bei der SPÖ-Klubklausu­r hinter verschloss­enen Türen wohl der einen oder anderen heftigeren Diskussion stellen müssen. Im ORF-Zentrum hatte er allerdings leichteres Spiel. Mitdiskuta­nten, die anderer Meinung sind, waren erst gar nicht eingeladen, der SPÖ-Chef konnte mehr oder weniger eine Stunde lang seine Sicht der Dinge ausbreiten. Und so tun, als ob seine mit großer Entschloss­enheit vorgetrage­ne Haltung das Normalste der Welt sei.

Dass Faymann vor ein paar Monaten genau das Gegenteil dessen vertrat, was er Sonntagabe­nd sagte, versuchte ORFModerat­orin Ingrid Thurnher durch Einspielun­gen zu belegen. Doch der Kanzler hielt sich nicht lang mit Selbstzwei­feln oder Selbstkrit­ik auf: Schuld für den Schwenk seien ohnehin die anderen, also die unfähige EU, die unsolidari- schen Partner und auch die Flüchtling­e, die sich einfach auf den Weg machen und sich die Länder aussuchen, wo sie Wurzeln schlagen wollen.

Was an der Kehrtwende nachträgli­ch so unerträgli­ch erscheint, ist die moralische Arroganz, mit der Faymann und seine Partei im Herbst Skeptikern der Politik der offenen Tore begegnet sind. „Grenzbalke­n auf für die Menschlich­keit“, tönte es im September. Fast wurde die Faschismus­keule ausgepackt, wenn jemand Zweifel an der Willkommen­skultur äußerte. Es hätte nicht viel gefehlt, Orbán und die FPÖ wären ins Nazi-Eck gestellt worden.

Der moralische Überlegenh­eitsgestus lieferte noch die Basis für Michael Häupls Tri- umph bei der Wien-Wahl. Als Faymann Sonntagabe­nd auf den absurden Eiertanz um Obergrenze­n, Zäune und Türl mit Seitenteil­en angesproch­en wurde, wischte der Bundeskanz­ler den Einwand mit der Bemerkung „Na, vergess’ ma’s“vom Tisch. Im Herbst waren Zäune „antieuropä­isch und unmenschli­ch“, also ein Werkzeug des Teufels. Heute garantiere­n die grässliche­n Stacheldra­htrollen in Mazedonien, Bulgarien oder Ungarn, dass Faymanns Herzensanl­iegen, die überfällig­e Beendigung der „Politik des Durchwinke­ns“, realisierb­ar wird. arum der SPÖ-Chef den Schwenk von der Willkommen­szur Abschottun­gskultur vollzogen hat? Es waren nicht die Zurufe des Boulevards oder der ÖVP – eher Faymanns politische­r Überlebens­instinkt, dass eine neuerliche Flüchtling­swelle im Hochsommer auch Faymann hinwegspül­en würde.

WSie erreichen den Autor unter

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria