Moral in der Politik: „Na, vergess’ ma’s“
Was Faymann einst empörte, ist nun rote Doktrin.
Werner Faymann fuhr Sonntag spätabends lieber auf den Küniglberg statt nach Saalfelden. Im Salzburgischen hätte sich der Kanzler bei der SPÖ-Klubklausur hinter verschlossenen Türen wohl der einen oder anderen heftigeren Diskussion stellen müssen. Im ORF-Zentrum hatte er allerdings leichteres Spiel. Mitdiskutanten, die anderer Meinung sind, waren erst gar nicht eingeladen, der SPÖ-Chef konnte mehr oder weniger eine Stunde lang seine Sicht der Dinge ausbreiten. Und so tun, als ob seine mit großer Entschlossenheit vorgetragene Haltung das Normalste der Welt sei.
Dass Faymann vor ein paar Monaten genau das Gegenteil dessen vertrat, was er Sonntagabend sagte, versuchte ORFModeratorin Ingrid Thurnher durch Einspielungen zu belegen. Doch der Kanzler hielt sich nicht lang mit Selbstzweifeln oder Selbstkritik auf: Schuld für den Schwenk seien ohnehin die anderen, also die unfähige EU, die unsolidari- schen Partner und auch die Flüchtlinge, die sich einfach auf den Weg machen und sich die Länder aussuchen, wo sie Wurzeln schlagen wollen.
Was an der Kehrtwende nachträglich so unerträglich erscheint, ist die moralische Arroganz, mit der Faymann und seine Partei im Herbst Skeptikern der Politik der offenen Tore begegnet sind. „Grenzbalken auf für die Menschlichkeit“, tönte es im September. Fast wurde die Faschismuskeule ausgepackt, wenn jemand Zweifel an der Willkommenskultur äußerte. Es hätte nicht viel gefehlt, Orbán und die FPÖ wären ins Nazi-Eck gestellt worden.
Der moralische Überlegenheitsgestus lieferte noch die Basis für Michael Häupls Tri- umph bei der Wien-Wahl. Als Faymann Sonntagabend auf den absurden Eiertanz um Obergrenzen, Zäune und Türl mit Seitenteilen angesprochen wurde, wischte der Bundeskanzler den Einwand mit der Bemerkung „Na, vergess’ ma’s“vom Tisch. Im Herbst waren Zäune „antieuropäisch und unmenschlich“, also ein Werkzeug des Teufels. Heute garantieren die grässlichen Stacheldrahtrollen in Mazedonien, Bulgarien oder Ungarn, dass Faymanns Herzensanliegen, die überfällige Beendigung der „Politik des Durchwinkens“, realisierbar wird. arum der SPÖ-Chef den Schwenk von der Willkommenszur Abschottungskultur vollzogen hat? Es waren nicht die Zurufe des Boulevards oder der ÖVP – eher Faymanns politischer Überlebensinstinkt, dass eine neuerliche Flüchtlingswelle im Hochsommer auch Faymann hinwegspülen würde.
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