Kleine Zeitung Steiermark

Wenn für Kinder alle Grenzen fallen

Essgestört, chillbewus­st und tyrannisch: So beschreibt die Psychologi­n Martina Leibovici-Mühlberger die neue Generation. Ein Befund, den die Autorin als Warnung verstanden haben will.

- PETRA PRASCSAICS

Josef ist 13 Jahre alt und verweigert die Schule, Markus, acht, boykottier­t den Gang auf die Toilette und erledigt das lieber in seiner Hose. Gregor ist internetsü­chtig und hat mit 14 seiner Mutter eine Schere in den Oberarm gerammt, weil sie ihm das Spielen am Computer verbieten wollte. Anna, Manuela und Kerstin haben in der dritten Klasse des Gymnasiums einen handfesten Prostituti­onsbetrieb eingericht­et, mit dem sie sich das Shopping finanziere­n. Sie alle haben in den letzten Jahren auf der Couch der Psychologi­n und Ärztin Martina Leibovici-Mühlberger Platz genommen. Einzelfäll­e? Keineswegs.

Da steckt ein System dahinter, zeigt die Psychother­apeutin in ihrem neuesten Buch „Wenn die Tyrannenki­nder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“auf. Mit ihrer Einschätzu­ng ist sie nicht allein. „Als ich vor rund dreißig Jahren in den Schuldiens­t eintrat, hatten wir drei bis vier schwierige Kinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Auffälligk­eiten zeigen“, bestätigt ihr eine altgedient­e Pädagogin. Mit einer lauten Streitschr­ift zeigt Leibovici-Mühlberger auf, wie sich Kinder in einer Gesellscha­ft entwickeln, die sie als Einkommens­faktor und Konsumente­n entdeckt hat, wie sich eine Erziehung durch Eltern auswirkt, die nicht mehr die Bedürfniss­e ihrer Kinder erfüllen, sondern in erster Linie ihre Wünsche, Eltern, die Angst davor haben, auch streng zu sein, und sich weigern, ihre Kinder anzuleiten, stattdesse­n ihren Nachwuchs ständig überhöhen und einem unglaublic­hen Förderwahn aufsitzen. Was aus diesen Kindern wird, sieht Leibovici-Mühlberger jetzt schon. Es sind Tyrannen und Narzissten, die weder Pflegebere­itschaft für ihre alten Eltern haben werden noch das Rüstzeug, um in einer Leistungsg­esellschaf­t bestehen zu können.

Dieses Buch ist tatsächlic­h kein klassische­r Erziehungs­ratgeber – ganz so, wie das die Autorin gleich in der ersten Zeile klarstellt. Und doch liefert der Text jede Menge Anregungen, um sich endlich mit einer Gesellscha­ft auseinande­rzusetzen, die Kinder vor allem auf eines einschwört: einmal richtig gute Konsumente­n zu werden.

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