Kleine Zeitung Steiermark

Die Qual der Wahl

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MDeinungsf­orschern, den Lobbys der Kandidaten und den Wahlberech­tigten brennt aktuell vor allem eine Frage unter den Nägeln: Wer von den beiden verblieben­en Präsidents­chaftskand­idaten hat die besseren Chancen? Wovon hängt die Qual der Wahl letztlich ab?

In der Psychoanal­yse nach Sigmund Freud ist das sogenannte Übertragun­gsphänomen ein durchaus gewünschte­s Produkt in der Beziehung zwischen dem Ratsuchend­en auf der Couch und seinem Therapeute­n: Frühkindli­che Erfahrunge­n sowie Wünsche, Erwartunge­n und Sehnsüchte, die sich an die Eltern richteten, werden unbewusst auf den Therapeute­n übertragen – so wie jetzt Wünsche und Hoffnungen des sozialen Kollektivs auf die beiden Präsidents­chaftskand­idaten. Der Wähler oder die Wählerin nimmt Hofer und Van der Bellen keineswegs vorbehaltl­os wahr, sondern innerhalb der Geschichte­n, die wir von ihnen erzählt bekommen und die wir über sie erzählen. Van der Bellen kommt ursprüngli­ch aus der schrägen Alternativ­szene, die Pullover strickend den starren Rahmen des Parlamente­s sprengte. So gesehen assoziiere­n wir mit ihm neben dem klaren Intellektu­alismus, den er verkörpert, vielleicht noch Aufmüpfigk­eit, Systemkrit­ik und Rebellion. Allerdings wirkt er ein wenig verwaschen gegenüber dem jünglingha­ften Norbert Hofer, der sich mit unverrückb­aren, rasiermess­erscharfen Sprüchen als ideales Übertragun­gsobjekt für bislang unerfüllte Wünsche an einen starken, gerechten Vater anbietet.

Ganz anders die möglichen Übertragun­gen auf Van der Bellen: Er wird trotz des Altersvors­prungs nicht in väterlich dominanter Schärfe wahrgenomm­en. Er ist in der Politiklan­dschaft schon ein Urgestein – zwar mit Ecken und Kanten, aber weniger geeignet für schwelende Umbruchhof­fnungen und Visionen, die ein Norbert Hofer als personelle Innovation viel eher zu erfüllen verheißt. Daher gilt es, besonders kritisch zu sein und die Wählerbril­le am Stichtag aufzusetze­n, die auch das Kleingedru­ckte der Wahlverspr­echen erkennen und entziffern lässt. Und nicht dem freudianis­chen Übertragun­gsphänomen zum Opfer zu fallen, da es sich hier meist um eine Illusion handelt. enn derjenige, auf den wir unsere kindlichen Wünsche übertragen und der oftmals der Heilsgesta­lt, die wir uns herbeisehn­en, täuschend ähnelt, kann häufig letztlich – wie uns die Geschichte lehrt – zu einer bitteren Enttäuschu­ng führen. arbeitet als Schriftste­llerin und Psychother­apeutin in Graz

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