„Es gibt keine Worte für diese
Orlando war bisher ein Synonym für Spaß und Vergnügen. Jetzt eint die Menschen dort die tiefe Trauer nach dem unvorstellbaren Blutbad.
Der Mann massiert seine Hände. Immer wieder knetet seine linke die rechte. Immer wieder, ohne Pause. Chris Enzo ist angespannt, nervös, er hat Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. Der 25 Jahre alte Student steht im Licht der Scheinwerfer vor der Absperrung, die Polizisten ein paar Hundert Meter vom Tatort aufgebaut haben.
Sein Kumpel Rodney, ein Barkeeper im Nachtklub „Pulse“, gehöre zu den Opfern des Attentäters von Orlando, erzählt er. „Drei Kugeln hat er sich eingefangen, zwei in die Schulter, eine in den Ellbogen“, sagt Enzo. Gerade sei er aus dem Krankenhaus gekommen, wo er seinen Freund sah, dick eingepackt in Bandagen, müde, durstig. „Aber sein Haar war noch in Ordnung”, sagt Enzo. Es klingt wie Galgenhumor.
Keine 20 Stunden sind zu diesem Zeitpunkt vergangen, seit ein 29 Jahre alter Mann ein Blutbad im Nachtklub „Pulse“im Zentrum von Orlando in Florida angerichtet hat. Spekulationen schwirren zu diesem Zeitpunkt durch die Nacht wie Glühwürmchen. So schnell sie aufblitzen, sind sie wieder weg. Neben Enzo stehen Fernsehreporter und wiederholen mit sich teilweise überschlagender Stimme in einer Dauerschleife die immer selben dürren Fakten.
Omar Mateen macht sich am Samstag auf die zweistündige Autofahrt von seinem Wohnort Fort Pierce nach Orlando. Der in New York geborene Sohn afghanischer Eltern arbeitet als Wachmann für die Sicherheitsfirma G4S. Er hat einen Waffenschein.
Dieser Mann betritt nach bis- herigen Ermittlungen der Polizei am Sonntagmorgen gegen zwei Uhr das „Pulse“, ein bei Schwulen und Lesben beliebter Nachtklub in der South Orange Avenue von Orlando. Die Mitternachtsshow ist gerade vorbei, auf der Tanzfläche ist noch Betrieb, bald aber ist Sperrstunde.
Der Mann beginnt zu schießen. „Er feuerte unablässig“, sagt Chris Enzo, der sich von seinem Freund Rodney im Krankenhaus hat erzählen lassen, wie das Massaker begann. „Rodney sagte, erst habe es die Frau erwischt, die er gerade an der Bar bedient habe. Dann wurde er selbst getroffen.“
Der Barkeeper fällt hinter der Bar zu Boden, rappelt sich auf und kann fliehen. Der Schütze, bewaffnet mit einem Schnellfeuergewehr, wie es viele Amokläufer in den USA in den vergangenen Jahren verwendet haben, verbarrikadiert sich mit Dutzenden von Geiseln im Club. Es dauert drei Stunden, bis die Polizei das Gebäude stürmt.
Jenseits von Disneyland
Der Bürgermeister von Orlando, Buddy Dyer, sagt, mindestens 50 Menschen im Club seien getötet worden und 53 zum Teil schwer verletzt. Das Massaker von Orlando ist das schlimmste Blutbad in der Geschichte der USA, der schlimmste Angriff auf Menschen seit 9/11 im Jahr 2001. Und das geschieht ausgerechnet in Orlando, das bekannt ist für den Disney-Park, für Spaß und Vergnügen. Jetzt eint die Menschen dort die tiefe Trauer nach dem unvorstellbaren Blutbad.
Orlando steht unter Schock, Amerika steht unter Schock. Die Suche nach den Motiven des Todesschützen hat noch keine befriedigenden Antworten ergeben. War Mateen ein Islamist? War er ein Schwulenhasser? Es gibt Hinweise, dass der Attentäter, der bei dem Feuergefecht mit der Polizei im „Pulse“getötet wurde, sowohl das eine als auch das andere gewesen sein könnte.
Denn kurz vor der Tat ruft Mateen die Notrufnummer 911 an und sagt, er habe dem IS Gefolgschaft geschworen. Später stellt sich heraus, dass die Bundespolizei FBI den Mann in den vergangenen Jahren zweimal im Visier hatte. Einmal soll sich Mateen gegenüber Arbeitskollegen so geäußert haben, dass diese den Eindruck hatten, er sympathisiere mit Islamisten.
Das andere Mal überprüfte das FBI mögliche Verbindungen zu einem Selbstmordattentäter, der sich in Syrien in die Luft gesprengt hatte. In beiden Fällen er- härtete sich aber der Verdacht nicht, das FBI stellte Mateen nicht unter besondere Beobachtung. Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht auch nicht. Der Vater des Schützen, Mir Seddique Mateen, sagt der „Washington Post“: „Ich glaube nicht, dass Religion oder der Islam etwas damit zu tun hatten.“Vielmehr habe sich sein Sohn entrüstet gezeigt, als er einmal in Miami gewesen sei und gesehen habe, wie sich zwei Männer auf offener Straße küssten.
Vor der Polizeiabsperrung steht Chris Enzo, dessen Kumpel Rodney noch schwer verletzt im Krankenhaus liegt, und schüttelt den Kopf. „Es gibt keine Worte für diese Tragödie. Da hat einer so viele Menschen einfach hingerichtet ... so sinnlos.“Und dabei knetet Enzo wieder seine Hände. Immer und immer wieder, ohne Pause. Er ist nervös. Er hat Mühe, seine Stimme ruhig zu halten.