Erdogan˘ beschneidet auch
In der Türkei gilt ab sofort nicht nur der Ausnahmezustand, auch die Menschenrechtskonvention wird zeitweise ausgesetzt. Alles erinnert an 1980.
Ein Meer türkischer Fahnen weht auf dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ auf den zwei riesigen Bildschirmen erscheint. „Wir werden den Ausnahmezustand für drei Monate einführen“, sagt er mit seiner dröhnenden Stimme. Dann spricht er über die Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den er für den Putschversuch verantwortlich macht. „Egal wohin sie fliehen, wir sind ihnen auf den Fersen.“Die 30.000 Menschen auf dem weitläufigen Platz jubeln, fallen sich in die Arme, skandieren „Allahu akbar!“und immer wieder: „Recep Tayyip Erdogan!“˘ Grölende junge Männer marschieren durch die angrenzende Fußgängerzone und recken die Hände zum Gruß der faschistischen Grauen Wölfe.
Zum ersten Mal seit dem Putsch von 1980 gilt wieder der Ausnahmezustand im ganzen Land und nicht nur in den unruhigen Kurdengebieten Südostanatoliens. Das Parlament kann die dreimonatige Dauer des Aus- nahmezustands verändern oder aufheben, womit angesichts der klaren Mehrheit von Erdogans˘ AKP in der Nationalversammlung jedoch nicht zu rechnen ist. Erdogan˘ hatte die Maßnahme nach Artikel 120 der Verfassung nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates sowie des Kabinetts verkündet. Damit kann er weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden.
Doch Erdogan˘ sagt, es werde „definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir.“Ziel sei es vielmehr, die Demokratie und den Rechtsstaat wiederherzustellen. Auch andere Spitzenpolitiker versuchen zu beruhigen: Vizepremier Mehmet Sim¸¸sek teilt via Twitter mit, es handele sich nicht um die Ausrufung des Kriegsrechts wie unter der Militärdiktatur 1980. Das Leben der Menschen werde nicht beeinträchtigt. „Dank des Ausnahmezustands wird die zivile Autorität gestärkt und Freiheiten nicht eingeschränkt“, versichert die Erdogan-˘treue Zeitung „Türkiye“. Die Lira stürzt gleichwohl weiter ab.
Während die Erdogan-˘Anhänger die Suspendierung der Demokratie feiern, sind viele liberale, säkulare Türken und Angehörige von Minderheiten wegen der fortgesetzten Massenentlassungen, Festnahmen und Ausreise- verbote für Akademiker zutiefst beunruhigt. Viele Ältere erinnern sich noch mit Schrecken an die Massenverhaftungen, Folter und brutale Zerschlagung von Gewerkschaften, Parteien, Verbänden nach 1980. „Alle meine Freunde haben Angst“, sagt eine 35-jährige Alevitin, „sie fragen sich: Wird es Pogrome geben?