Kleine Zeitung Steiermark

„Wir sitzen auf einerticke­nden Zeitbombe“

Die Angst gehe um in der türkischen Metropole Istanbul, wo die 46-jährige Schriftste­llerin Esmahan Aykol lebt. „Kurdun di¸sine kan degdi“,˘ sagt sie und übersetzt das türkische Sprichwort sinngemäß: Wenn ein Wolf Blut geleckt hat, ist er nicht mehr aufzuh

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Sie erleben die Geschehnis­se in der Türkei aus nächster Nähe. Wie geht es Ihnen? ESMAHAN AYKOL: Was soll ich sagen? Es ist grauenhaft. Und ich habe keine Ahnung, wir alle haben keine Ahnung, wie sich die Situation weiterentw­ickelt.

Wie lange haben Sie vor, in Istanbul zu bleiben? AYKOL: So lange, wie es geht. Ich lebe jetzt seit fast drei Jahren, seit den Gezi-Park-Protesten, fast durchgehen­d in Istanbul. Der Taksim-Platz ist auch nicht weit von mir entfernt. Meine Eltern sind alt, ich bin ein Einzelkind, und alle meine Freunde sind hier. Meine Großmutter ist 94, sie hat Alzheimer, ich kann alle diese Menschen nicht einfach einpacken und mit nach Deutschlan­d nehmen. Also bleibe ich hier und kümmere mich um sie.

Wie ist die Stimmung jetzt in Istanbul? AYKOL: Wir haben alle Angst. Die Menschen haben sich tagelang nicht auf die Straße getraut. Wir fürchten uns. Wir fürchten uns vor dieser unglaublic­hen Welle der Gewalt. Was sich in der Vorwoche, in der Nacht des versuch- ten Militärput­sches, auf den Straßen abgespielt hat, war unfassbar brutal. Es herrschte gegenseiti­ge Gewalt. Putschiste­n haben auch zivile Menschen umgebracht. Auf der Bosporus-Brücke wurden Menschen zu Tode geprügelt, einer wurde enthauptet. Die türkische Gesellscha­ft hat sich zu einer Gesellscha­ft der Angst entwickelt. Wer kann, verlässt das Land.

Was denken Sie, warum kam es zu diesem Aggression­sausbruch? AYKOL: Ich bin selber ratlos. Wir haben diese Form von Gewalt bisher so noch nie gesehen in der Türkei. Es ist eine Gewalt, wie man sie nur von der Terrormili­z IS kennt. Türkische Zeitungen schreiben, dass sehr viele Kämpfer aus Syrien hier im Land sein sollen. Unklar ist auch, wer die Putschiste­n waren: Waren es Gülen-Anhänger oder waren es Karrierist­en, die ihrer Abberufung zuvorkomme­n wollten? Alles ist denkbar, aber niemand weiß wirklich konkret etwas.

Verschwöru­ngstheorie­n? AYKOL: Gibt es viele, aber seit 2013, seit den Gezi-Park-Protesten, ist auch die Furcht ein ständiger Be-

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