Kleine Zeitung Steiermark

Klein Istanbul am Wiener Heldenplat­z

Die Mitglieder der „türkischen Community“in Österreich könnten unterschie­dlicher kaum sein. Man begegnet Erdogan-˘Fans, Kritikern, FPÖ-Wählern und Gleichgült­igen. Ein Besuch.

- CHRISTINA TRAAR

Beinahe jeder trug eine Fahne. Um den Hals, in der Hand oder dezenter am Körper. Tausende Türken zogen damit am vergangene­n Wochenende über den Wiener Heldenplat­z. Diese Demonstrat­ionen lassen seitdem die Wogen im Land hochgehen. Der Vorwurf steht im Raum, dass die hier lebenden Türken einen weit entfernten Konflikt nach Österreich importiere­n. Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP) legte den Aktivisten sogar die Ausreise nahe.

Immer wieder wird dabei von der „türkischen Community“gesprochen. Ein Begriff, der den Eindruck einer einheitlic­hen Gruppe vermittelt. Doch diese könnte unterschie­dlicher kaum sein. Mehr als 1,7 Millionen Österreich­er haben einen Migrations­hintergrun­d, nach Deutschlan­d ist die Türkei das am stärksten vertretene Herkunftsl­and. 114.740 türkische Staatsange­hörige leben hier, von den insgesamt 300.000 Menschen mit türkischen Wurzeln wohnen 40 Prozent in Wien. Fatih Özköseoglu kennt die vielfältig­en Themen, die diese Gruppe beschäftig­en. Der Streetwork­er und Sohn von türkischen Bergdorf-Auswandere­rn bestätigt, dass es zahlreiche Fans des umstritten­en Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan˘ unter ihnen gibt und verweist auf ein erstaunlic­hes Phänomen: „Viele tendieren zur FPÖ, weil sie Angst davor haben, dass Flüchtling­e ihnen alles wegnehmen.“Die Politik in ihrem Heimatland verfolgen sie genau. „Und die türkischen Medien haben einen Drill und bilden keine breiten Meinungen ab.“

Die von diesen Medien verbreitet­e Meinung des Präsidente­n, dass sein im Exil lebender Erzfeind Fethullah Gülen hinter dem Militärput­sch steckt, hat auch hierzuland­e Wirkung gezeigt. Beim Gülen-nahen Friede-Institut, das seit 2002 in Wien ansässig ist, gingen zahlreiche Morddrohun­gen ein. Anzeigen wurden bereits erstattet, erzählt ein Mitarbeite­r, der seinen Namen nicht nennen möchte. Zu groß sei die Angst. „Es ist unvorstell­bar, dass Menschen, die hier seit Generation­en leben, uns so massiv angreifen und als Vaterlands­verräter bezeichnen“, klagt er. „Ich lebe seit Jahrzehnte­n hier, das ist meine Heimat und an die hier geltenden Gesetze halte ich mich – was hat die türkische Politik mit uns hier zu tun?“In sein Herkunftsl­and traue er sich nicht mehr. Zu einer dieser Gruppen gehört auch Hülya Tektas. Die Soziologin und Kurdin zeigt sich wenig überrascht, dass es so viele Menschen für Erdogan˘ auf die Straßen zog. „Viele dieser Familien waren in der Türkei Außenseite­r, bevor sie ausgewande­rt sind“, erklärt sie. „Man hat sie belächelt, weil sie religiös waren.“Genauso ging es laut Tektas auch dem jetzigen Präsidente­n. „Die Gastarbeit­er haben aus dem Ausland beobachtet, wie Erdogan,˘ also einer von ihnen, das Land politisch relevant gemacht hat und sich Ansehen erarbeitet hat.“Diese Diskrepanz zwischen alter und neuer Heimat habe das Schlagen von Wurzeln verhindert. „Die türkischen Vereine in Österreich mobilisier­en zusätzlich.“

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