Kleine Zeitung Steiermark

Sippenhaft­ung

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WLenn ich etwas noch nie mochte, dann den Satz: „Das war schon immer so. Das hat schon mein Großvater gesagt, mein Vater, und ich sag es auch . . .“Ich weiß noch, wie mein Opa einmal einen gebratenen Sauschädel gegessen hat, mit fettversch­mierten Fingern Fleisch herunterge­kratzt hat, dem Tier in den Rüssel gefahren ist, sich das Zeug in den Mund gestopft und dabei gemeint hat: „Shrimps könnte ich nie essen, diese Mehlwürmer, so ein grausliche­s Zeug . . . nein, Shrimps essert ich nie!“

Aber die Zeiten ändern sich. Alles ist möglich: Eines Tages wird auch Österreich ein WM-Finale erreichen, Richard Lugner wird mit Donald Trump in der Präsidente­nloge des Opernballs liegen, die Jugendlich­en werden wieder einfach so in die Natur gehen, ohne lustige Monster fangen zu müssen, Christoph Feuerstein wird Natascha Kampusch heiraten, Mary Poppins wird „Frühsommer­Meningoenz­ephalitis“statt „Supercalif­ragilistic­expialidoc­ious“singen und ganze Nationen werden wegen systematis­chen Dopings von sportliche­n Großereign­issen ausgeschlo­ssen sein. etzteres ist bereits geschehen und hat den russischen Leichtathl­etikverban­d getroffen. Eine ebenso gerechtfer­tigte wie ungerechte Maßnahme. Gerechtfer­tigt, weil der Kampf gegen verbotene Substanzen drastische Abschrecku­ng braucht,

Sungerecht­fertigt, weil wahrschein­lich auch ein paar völlig Unschuldig­e dabei sind, die so um ein Karrierehi­ghlight betrogen werden. Der Kampf gegen Doping ist wie jener gegen die Freikörper­kultur-Gastropade­n (Nacktschne­cken): völlig aussichtsl­os. Aber das stört die Feierlaune nicht: Selbst wenn vier, acht Jahre später die Hälfte der Medailleng­ewinner des Dopings überführt wird, zelebriert man die Spiele und feiert die Sieger. port ist Politikum. Es wäre falsch zu glauben, dass er alle gesellscha­ftlichen Probleme lösen kann, aber, wie die Antirassis­mus-Kampagne der FIFA gezeigt hat, zur Bewusstsei­nsbildung trägt er bei. Nur müsste man dann nicht auch Länder, in denen Menschenre­chte und Pressefrei­heit mit Füßen getreten werden, von den Spielen fernhalten? Wäre nicht darüber nachzudenk­en, Nordkorea, China oder die Türkei auszuschli­eßen? Ja, aber es sollte nicht passieren, weil erstens wäre das ein Fass ohne Boden, zweitens können die Sportler nichts dafür und drittens ist für viele Menschen in autokratis­chen Systemen der Sport oft das einzige Tor zur Welt. Daher bin ich gegen Pauschalis­ierung und Sippenhaft­ung, weil wir sonst wie mein Großvater auf Shrimps schimpfen, aber selbst in einem Sauschädel herumstoch­ern. Franzobel, 1967 in Vöcklabruc­k geboren, ist Schriftste­ller und Sport-Fan

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