LEITARTIKEL Scheitern ist verboten
Kerns Masterplan hat zahllose Schwachstellen. Eines geht sicher nicht: das Vorhaben als unrealisierbare Träumerei abzutun – um weiterzumachen wie bisher. Dann muss Plan B her.
Man kann von Christian Kerns Plan A halten, was man will, über jeden Punkt trefflich streiten, das Papier als mutiges, visionäres Projekt würdigen. Man kann auch die Ansicht vertreten, die 146 Seiten sind ein verspäteter Wunsch ans Christkind, der nie umgesetzt wird, weil das Vorhaben an unserer Realverfassung zerschellt.
Man kann die Senkung der Lohnnebenkosten um drei Milliarden, die Entrümpelung der Gesetze, den schlanken Staat als undurchführbar abtun. Man kann diese radikalen Forderungen auch als unverzichtbaren Schritt ansehen, um Österreich in einem globalisierten Umfeld als Standort abzusichern.
Man kann Kerns Einlenken bei der zwölfstündigen Arbeitszeit als ausbeuterische Maßnahme abqualifizieren, man kann sie auch als notwendiges, arbeitsplatzsicherndes Vorhaben einstufen, um Unternehmen das Überleben zu sichern und den Betroffenen nebenbei die 3,5 Tage-woche zu ermöglichen.
Man muss Kerns Schweigen zu den Pensionen als Kotau vor Gewerkschaft, Arbeiterkammer, Pensionisten brandmar- ken, gleichwohl er bei Uni-zugang oder Arbeitszeit den roten Rubikon übersprungen hat.
Man kann Kerns Forderungen nach einem Mindestlohn von 1500 Euro und seine Beschäftigungsgarantie für Leute über 50 als Utopie würdigen, man kann die Vorschläge als unfinanzierbare, sozialpolitische Träumerei, die auf einem falschen Staatsverständnis fußt, in Bausch und Bogen verdammen.
Man kann Kerns Idee einer Gratiskinderbetreuung zwischen eins und sechs oder das Gratistablet für alle Schüler als bildungspolitische Avantgarde betrachten. Man kann auch argumentieren, vielleicht sollten nur die weniger begüterten Familien in den Genuss kommen.
Man kann Kerns moderates Mehrheitswahlrecht (Aufschlag von zehn Ministerposten auf die Mehrheit) als leicht durchschaubares Manöver vorführen, um nach der Wahl eine
EKoalition mit Grünen und Neos zu schmieden. Man kann auch der Ansicht sein, klare Mehrheiten in der Regierung seien wichtiger als eine getreu dem Wahlergebnis zusammengesetzte Parlamentsmehrheit.
Man kann Kern vorhalten, das Projekt sei finanziell auf Sand gebaut, man darf ihm allerdings zugutehalten, dass er sich damit befasst hat – im Unterschied zur Övp-perspektivengruppe und dem einstigen Modell Steiermark, wo man die Finanzfrage als lässliches Detail vom Tisch gewischt hat.
Man kann Kerns ambitionierten Plan als geniales Modernisierungsprojekt für Österreich würdigen. Man kann auch argumentieren, eine Pr-agentur hätte kein besseres Produkt in Sachen Eigenvermarktung abliefern können. ins geht nicht: Kerns Plan A mit einem zynischen Unterton pauschal als unrealisierbare Träumerei abzutun – um weiterzumachen wie bisher. Wer sich als Besserwisser aufspielt, sollte lieber einen Plan B vorlegen. Scheitern ist verboten. Scheitert Plan A oder ein womöglich besserer Plan B, ist auch Österreich gescheitert.