Kleine Zeitung Steiermark

LEITARTIKE­L Ein vergiftete­s Erbe

Der neue Präsident des Europäisch­en Parlaments, Antonio Tajani, übernimmt von seinem Vorgänger, Martin Schulz, ein zerstritte­nes Haus, das in der Krise nach seiner Rolle sucht.

- Von Stefan Winkler stefan.winkler@kleinezeit­ung.at

Wenn der Glanz und der politische Stellenwer­t eines Parlamente­s am Geltungsdr­ang der Person gemessen werden, die ihm vorsteht, dann sind es ziemlich große Fußstapfen, in die der Italiener Antonio Tajani tritt.

Sein Vorgänger an der Spitze des Europaparl­aments, der Deutsche Martin Schulz, habe die Straßburge­r Kammer von ihrem Kümmerdase­in im Schatten nationalst­aatlicher Dominanz erlöst und zu neuer, machtvolle­r Präsenz geführt, huldigten deutsche Medien in diesen Tagen dem Sozialdemo­kraten, der vor der Bundestags­wahl nach Berlin wechselt.

Man kann die Dinge auch nüchterner sehen: Stets als Erster mit einer Wortspende zur Stelle zu sein, egal ob die Erde in Italien bebt, Viktor Orbán in Ungarn Zäune baut oder der Papst den Karlspreis erhält, mag dem Europaparl­ament vielleicht zu mehr Sichtbarke­it verholfen haben. Dass damit allerdings auch ein Zuwachs an realer Macht und an politische­m Einfluss verbunden war, darf bezweifelt werden.

Im Gegenteil. Der aufgeblase­ne präsidiale Stil, den Schulz pflegte, und sein häufiges Agieren ohne Mandat standen im scharfen Kontrast zur Realität einer Volksvertr­etung, die ihre Rolle in Europas existenzie­ller Krise noch nicht gefunden hat.

Unter der Kaskade an Katastroph­en, die über das vereinte Europa hereinbrac­h, hatten dessen gemeinscha­ftliche Institutio­nen, das Europaparl­ament und die Eu-kommission, gemeint, das Krisenmana­gement an sich ziehen zu können. Das erwies sich aber rasch als Irrtum. Denn das viel geschmähte „intergouve­rnementale“Europa, die Staats- und Regierungs­chefs, dachten nicht daran, das Heft des Handelns aus der Hand zu geben, und begannen, zunächst holprig, dann mit von Krisengipf­el zu Krisengipf­el wachsender Routine Ereignispo­litik zu betreiben.

Mehr denn je ist der Europäisch­e Rat heute das Zentrum der Macht in der EU. Da half es we-

Mnig, dass Schulz und Kommission­schef Juncker eine Allianz zur Wahrung der Interessen von Parlament und Kommission schmiedete­n. Beide blieben in der Krise Nebenschau­plätze.

Zur nationalst­aatlichen Übermacht das häufig notwendige Korrektiv zu bilden, wird der Straßburge­r Volksvertr­etung künftig wohl noch schwerer fallen. Denn Schulz hat ein vergiftete­s Erbe hinterlass­en. Weil er im Herbst entgegen einer Vereinbaru­ng eine dritte Amtszeit anstrebte, gerieten sich Christdemo­kraten und Sozialdemo­kraten im Eu-parlament in die Haare und ihre informelle Große Koalition zerbrach. it dem Bündnis Geschichte sind die satten Mehrheiten, die inmitten von Krisenchao­s und galoppiere­nder Endzeitsti­mmung für einen reibungsfr­eien Ablauf der Eu-gesetzgebu­ngsmaschin­erie sorgten. Ab sofort rückt die ideologisc­he Auseinande­rsetzung in den Vordergrun­d und der Ton wird rauer. Aber statt des Präsidente­n sind wieder die Fraktionen am Wort. Das wird das Hohe Haus in Straßburg gewiss nicht stärker, auf jeden Fall aber lebendiger machen.

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