LEITARTIKEL Ein vergiftetes Erbe
Der neue Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, übernimmt von seinem Vorgänger, Martin Schulz, ein zerstrittenes Haus, das in der Krise nach seiner Rolle sucht.
Wenn der Glanz und der politische Stellenwert eines Parlamentes am Geltungsdrang der Person gemessen werden, die ihm vorsteht, dann sind es ziemlich große Fußstapfen, in die der Italiener Antonio Tajani tritt.
Sein Vorgänger an der Spitze des Europaparlaments, der Deutsche Martin Schulz, habe die Straßburger Kammer von ihrem Kümmerdasein im Schatten nationalstaatlicher Dominanz erlöst und zu neuer, machtvoller Präsenz geführt, huldigten deutsche Medien in diesen Tagen dem Sozialdemokraten, der vor der Bundestagswahl nach Berlin wechselt.
Man kann die Dinge auch nüchterner sehen: Stets als Erster mit einer Wortspende zur Stelle zu sein, egal ob die Erde in Italien bebt, Viktor Orbán in Ungarn Zäune baut oder der Papst den Karlspreis erhält, mag dem Europaparlament vielleicht zu mehr Sichtbarkeit verholfen haben. Dass damit allerdings auch ein Zuwachs an realer Macht und an politischem Einfluss verbunden war, darf bezweifelt werden.
Im Gegenteil. Der aufgeblasene präsidiale Stil, den Schulz pflegte, und sein häufiges Agieren ohne Mandat standen im scharfen Kontrast zur Realität einer Volksvertretung, die ihre Rolle in Europas existenzieller Krise noch nicht gefunden hat.
Unter der Kaskade an Katastrophen, die über das vereinte Europa hereinbrach, hatten dessen gemeinschaftliche Institutionen, das Europaparlament und die Eu-kommission, gemeint, das Krisenmanagement an sich ziehen zu können. Das erwies sich aber rasch als Irrtum. Denn das viel geschmähte „intergouvernementale“Europa, die Staats- und Regierungschefs, dachten nicht daran, das Heft des Handelns aus der Hand zu geben, und begannen, zunächst holprig, dann mit von Krisengipfel zu Krisengipfel wachsender Routine Ereignispolitik zu betreiben.
Mehr denn je ist der Europäische Rat heute das Zentrum der Macht in der EU. Da half es we-
Mnig, dass Schulz und Kommissionschef Juncker eine Allianz zur Wahrung der Interessen von Parlament und Kommission schmiedeten. Beide blieben in der Krise Nebenschauplätze.
Zur nationalstaatlichen Übermacht das häufig notwendige Korrektiv zu bilden, wird der Straßburger Volksvertretung künftig wohl noch schwerer fallen. Denn Schulz hat ein vergiftetes Erbe hinterlassen. Weil er im Herbst entgegen einer Vereinbarung eine dritte Amtszeit anstrebte, gerieten sich Christdemokraten und Sozialdemokraten im Eu-parlament in die Haare und ihre informelle Große Koalition zerbrach. it dem Bündnis Geschichte sind die satten Mehrheiten, die inmitten von Krisenchaos und galoppierender Endzeitstimmung für einen reibungsfreien Ablauf der Eu-gesetzgebungsmaschinerie sorgten. Ab sofort rückt die ideologische Auseinandersetzung in den Vordergrund und der Ton wird rauer. Aber statt des Präsidenten sind wieder die Fraktionen am Wort. Das wird das Hohe Haus in Straßburg gewiss nicht stärker, auf jeden Fall aber lebendiger machen.