Deutschland: Sigmar Gabriel gibt auf. Martin Schulz soll Kanzlerkandidat und Parteichef werden. Die SPD ist perplex und erleichtert.
Karl Doemens, Berlin
Dieses Mal sollte alles ganz anders laufen. Nicht so chaotisch wie vor vier Jahren, als Peer Steinbrück in einer Sturzgeburt zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt wurde und danach von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen torkelte. Nein, dieses Mal war angeblich alles gut geplant. „Der Zeitplan gilt“, wiederholte der Pressesprecher der Partei gebetsmühlenartig. Kommenden Sonntag werde im Parteivorstand über Angela Merkels Herausforderer entschieden.
Und dann das: Es ist Dienstag, kurz nach halb drei Uhr, als der Mediendienst Meedia ein Foto des neuen „Stern“-titelbilds verbreitet. Darauf das Konterfei von Gabriel und die Schlagzeile „Der Rücktritt“. Die Nachricht schlägt im Bundestag ein wie eine Bombe. Mit versteinerten Gesichtern drängen die Abgeordneten an den Kameras vorbei in den Fraktionssaal.
Seit Wochen hat Gabriel die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur hinausgezögert. Gleichzeitig sandte er jedoch aus, die allgemein als Ausdruck seiner Entschlossenheit gewertet wurden, dieses Mal gegen Merkel anzutreten: eine Homestory mit Frau und Tochter, ein Porträt im Fernsehen, der stille Triumph über den Bundespräsidenten-coup, das Vorpreschen mit einem Papier zur inneren Sicherheit kurz nach einer Magenoperation, die klare Positionierung als Anwalt der Demokratie gegen den neuen Us-präsidenten Trump. Zugleich erklärte der Europapolitiker Martin Schulz, er habe kaum noch Chancen auf die Kanzlerkandidatur. Und nun das: Schon vor Tagen muss der SPD-CHEF dem „Stern“-chefredakteur das Gegenteil erklärt und gleichzeitig dem stellvertretenden „Zeit“chefredakteur Bernd Ulrich von seinen Zweifeln und dem Plan berichtet haben, ins Au- ßenministerium zu wechseln. Am Wochenende informiert Gabriel nur eine Handvoll Genossen in der engsten Parteiführung über seinen Coup.
Am Dienstag kurz nach 15 Uhr erklärt Gabriel dann hinter den verschlossenen Türen des Fraktionssaals den perplexen Abgeordneten, auch angesichts der schlechten Umfrageergebnisse sei er zu dem Schluss gekommen, dass er nicht der optimale Kandidat sei. Er schlage Ex-eu-parlamentspräsident Martin Schulz vor, der auch Parteivorsitzender werden solle. Damit ist klar: Eine Wiederholung des Arrangements von 2013, als Gabriel Parteichef blieb, aber Steinbrück ins Rennen ums Kanzleramt schickte, wird es nicht geben: Nach sieben Jahren gibt der Mann aus Goslar den Parteivorsitz ab.
Es wäre unfair, Gabriel nur an den desaströsen Umfragewersignale ten von 20 Prozent zu messen: Er hat die Partei nach ihrer Wahlniederlage 2009 aufgerichtet, sie 2013 in die Regierung geführt und zuletzt den Spd-kandidaten für das Bundespräsidentenamt, Frank-walter Steinmeier, durchgedrückt. Das ist eine ganze Menge. Doch Gabriels Rückzug vom Vorsitz ist mehr als eine persönliche Lebensentscheidung. Es ist auch eine demonstrative Abkehr von der Großen Koalition. Ausdrücklich sagt Gabriel in der Fraktionssitzung, dass seine Partei in dem Bündnis mit der Union nicht die erhofften Früchte habe ernten können, dass die SPD im Wahlkampf nun für andere Machtoptionen kämpfen müsse und dass Schulz ausdrücklich kein Ministeramt bekommen solle, damit er freier in der Auseinandersetzung sei.
Große Koalition war gestern.