Eine Welt für sich, hinter unsichtbaren Mauern
Eine Gruppe hat immer Grund, sich vor dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“zu fürchten: die Roma. Für sie bedeutet er zumeist die Vertreibung aus ihren stadtnahen Revieren. 2019 droht ihnen das in Plovdiv womöglich auch.
ZWu den schönen Ideen, die von der gewohnheitsmäßig gescholtenen Europäischen Union umgesetzt wurden, gehört die Wahl von Städten, die für ein Jahr mit dem ehrenden Titel „Europäische Kulturhauptstadt“versehen werden. Städte mit ruhmreicher Vergangenheit, aber schwieriger Gegenwart wurden dazu ernannt, aber auch solche ohne große historische Bedeutung, die dafür mit neuen urbanistischen Konzepten überzeugen konnten. Manche von ihnen haben die Chance genutzt, sich nicht nur in ihrem überkommenen Glanz zu präsentieren, sondern soziale und künstlerische Projekte auf den Weg zu bringen, die über das Ende des Kulturjahres hinaus wirken, andere haben sich selbst zu Radaubuden von Events demoliert, die ein verdammt langes Jahr die Einwohner dröhnend drangsalierten. ird eine Stadt zur Kulturhauptstadt ernannt – die Vorlaufzeit beträgt sechs Jahre –, dann beginnen sich in der Region viele zu freuen, von den Baufirmen bis zu den Kulturinitiativen, die alle etwas von den Fördermitteln abbekommen mögen, die in der Regel reichlich zu fließen beginnen. Eine Gruppe aber hat immer Grund, sich zu fürchten: die Roma. Für sie nämlich heißt Kulturhauptstadt gleich Vertreibung aus ihren stadtnahen Revieren. aum dass Istanbul zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde, begann
KIdie Stadtverschönerung, indem die ältesten Romaviertel Sulukule und Tarlaba¸sı geschleift, ethnisch gesäubert und im osmanischen Imperialstil neue Prachtviertel hochgezogen wurden. Dabei könnte doch gerade dies eine Folge der Wahl zur Kulturhauptstadt sein: dass städtischen Bezirken, deren Bewohner von der Stadtverwaltung längst vergessen wurden, endlich einmal Aufmerksamkeit zugewandt werde und sich Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter, Bildungspolitiker, Künstler gemeinsam mit den Bewohnern überlegten, was getan werden könne, um die Lage zu bessern. Die simple wie brutale Regel aber ist, dass ein möglichst glanzvolles, von der internationalen Presse gerühmtes, den Tourismus beflügelndes Jahr dafür genutzt werde, die randständigen Bewohner aus der Kulturhauptstadt zu vertreiben und bestimmte Viertel sozial oder ethnisch zu säubern. n Koˇsice, Kulturhauptstadt von 2013, wurde diese Säuberung schon früher vollzogen. Damit die slowakische Stadt überhaupt den berechtigten Ruf erwarb, eine der schönsten Innenstädte Mitteleuropas zu haben, musste die Altstadt zuvor restauriert werden. Das war durchaus sinnvoll, denn das deutsche Kaschau, das ungarische Kassa, das slowakische Koˇsice war im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und in den Aufbaujahren des realen Sozialismus, dem die bürgerliche Stadt als Relikt alter Klassenherrschaft verdächtig und ver- ächtlich war, dem Verfall preisgegeben worden. Damit der überfällige Wiederaufbau beginnen konnte, mussten freilich zuvor etliche Tausend Roma, die als Einzige in den baufälligen Häusern der Altstadt ausgeharrt hatten, vertrieben werden. Sie wurden in ein rasch errichtetes Viertel am Stadtrand umgesiedelt, das für sich genommen gar kein perfide angelegtes urbanes Depot für Arme war; aber da die Roma nach ihren Wünschen nicht befragt und zwangsweise in die Siedlung Luník IX verfrachtet wurschon den, sind sie, die bisher in ein-, höchstens zweistöckigen Häusern lebten, in den Hochhäusern am Stadtrand nie heimisch geworden, sodass die neue Siedlung binnen weniger Jahre zum Slum verkam. m Jahr 2019 ist das bulgarische Plovdiv an der Reihe, eine alte Stadt, die sich anmutig die Hügel hinaufzieht und stolz ist auf ihre demokratischen Traditionen, denn hier studierten die Rebellen, die einst in den Kampf gegen die Osmanen zogen, und hier standen die ersten Druckerpressen
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