Der süße Geschmack von Schokolade in Zeiten bitterer Not
Vor 70 Jahren wurde der Marshallplan als Hilfsprogramm für das kriegszerstörte Europa ins Leben gerufen. Der Altbundespräsident erinnerte dieser Tage in Washington an das großzügige Werk. Wir bringen hier seine Dankesrede.
ESSAY.
Die Lage in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Desaster, aus vielen Gründen beinahe hoffnungslos. 240.000 Menschen waren im Krieg umgekommen, viele Kriegsgefangene in Sibirien, die Infrastruktur zerstört, es herrschten Hunger und Chaos.
Ich begann in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges, im September 1944, im Alter von sechs Jahren in der Nähe von Wien mit der Volksschule. Sirenen, die Bomben ankündigten, gehörten zum täglichen Leben. Es gab wenig zu essen, die Brutalität des Nazi-regimes und der Gestapo war auf ihrem Höhepunkt. Die Schlacht um Wien endete im frühen April 1945, und dann sah ich die ersten russischen Soldaten, da die Rote Armee als erste Wien erreichte. Die Bombenangriffe und der Krieg waren vorüber, aber es gab sogar noch weniger zu essen als zuvor. Am 27. April 1945 erklärte eine provisorische Regierung die Annexion Österreichs durch Hitler-deutschland für null und nichtig, und Österreich erstand als unabhängiges demokratisches Land wieder. Einige Monate später begann mein Vater im neu geschaffenen Bundesministerium für Volksernährung zu arbeiten, und von dem Augenblick an wurde ich mit Wörtern wie UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) und CARE (Cooperative for Assistance and Relief for Europe) vertraut.
Wenn wir Care-pakete bekamen oder wenn Essen der UNRRA verteilt wurde, wusste ich, was das war, und ich erinnere mich noch daran: an den ersten Geschmack von Corned Beef, Schokolade, Kondensmilch, Orangen. Als ich die Volksschule abschloss, gab es ein neues Wort an unserem Esstisch, nämlich Marshallplan und ERP, und ich bin sicher, es wurde auch in vielen anderen Familien in Österreich und in anderen europäischen Ländern diskutiert.
Und es wurde auch in Moskau diskutiert. Wieso? Weil im Juni 1947 der amerikanische Außenminister George C. Marshall einen umfassenden Plan für den Wiederaufbau von Nachkriegseuropa ankündigte, das European Recovery Program, das in diesen Tagen geehrt wird. Die zugrunde liegende Idee war: den Europäern helfen, sich selbst zu helfen. Sechzehn europäische Staaten reagierten auf diese Idee positiv. Moskau zögerte zunächst und sagte dann Nein, und zwang seine Satellitenstaaten, auch Nein zu sagen.
ISo verpassten sie eine Erfolgsgeschichte.
Österreich war in einer speziellen Situation: Es war das einzige Land mit sowjetischen Besatzungssoldaten, das Marshallplan-hilfe erhielt.
Der Marshallplan war die Basis für das Überleben einiger europäischer Staaten und ein wichtiger Impuls für die Integration von Westeuropa. Er war auch ein Kontrapunkt zu den Pariser Friedensverträgen von 1919. m Rahmen des Marshallplanes trug jeder amerikanische Staatsbürger durchschnittlich 80 Us-dollar zum europäischen Wiederaufbau bei. Damals entsprach das in etwa zwei Wochen Lohn für einen Facharbeiter. Die österreichische Bundesrepublik und ihre Bevölkerung profitierten enorm vom ERP – die Österreicher erhielten pro Kopf mehr Marshallplan-hilfe als die meisten anderen teilnehmenden Staaten. Zwischen 1948 und 1952 flossen mehr als 13 Milliarden Us-dollar von den Vereinigten Staaten ins Nachkriegseuropa. Fast eine Milliarde Us-dollar wurde in diesen vier Jahren nach Österreich transferiert. Auf einer Pro-kopfgrundlage gehörte Österreich zu den Top-drei-staaten, die Marshallplan-hilfe erhielten.
Die einfache, aber geniale Idee, die dem Marshallplan zugrunde lag, war, nicht nur Hilfe zur Verfügung zu stellen, sondern auch zu helfen, einen Kapitalmarkt zu schaffen. Die Ressourcen des Marshallplanes wurden der österreichischen Regierung zur Verfügung gestellt, und von dieser wiederum
Awurde erwartet, einen großen Anteil der österreichischen Wirtschaft in Form von Krediten zugänglich zu machen. So wurde Österreich mit den notwendigen Investitionsmitteln versorgt, um seine Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und seine monetären Probleme zu lösen.
Österreich erhielt auch dringend benötigte Rohstoffe und Kapitalgüter von den Vereinigten Staaten. Die Kredite, die über die sogenannten Marshallplan-gegenwertmittel („counterpart funds“) zur Verfügung gestellt wurden, wurden in österreichischer Währung zurückgezahlt. Durch die durch das Bundeskanzleramt verteilten Gegenwertmittel wurde eine Art Investitionsbank geschaffen. Im Jahr 1962 übertrug die Us-regierung die Assets der Gegenwertmittel an die österreichische Regierung, die damit den Erp-fonds schuf. Der österreichische industrielle Wiederaufbau, das Eisenbahnnetzwerk, Wasserkraftwerke, Straßen und Brücken, Landwirtschaft und Tourismus und ein öffentliches Wohnbauprogramm wurden in großen Teilen durch Erp-gegenwertmittel finanziert. m Beginn des ERP wurde im Bereich Ernährung und Landwirtschaft die meiste Hilfe benötigt. Aber bald gab es einen Wechsel zu langfristiger Hilfe. Man kann sagen, dass über die Jahre ein Drittel im Bereich Energie, ein Drittel in der Industrie und ein Drittel im Bereich Infrastruktur, Landwirtschaft und Tourismus investiert wurde.