Kleine Zeitung Steiermark

Putin, Stalin und der liebe Gott

- Von Stefan Scholl, Moskau

Heute vor 100 Jahren begannen die Kommuniste­n in Russland, mit ihrer Revolution die Macht zu erobern: Der Kommunismu­s ist mittlerwei­le tot, aber die Sowjet-mentalität gibt es noch.

Nicht, dass es keine Revolution­äre mehr gäbe. Am Sonntag wurden in Moskau und anderen russischen Städten mehr als 400 mutmaßlich­e Extremiste­n festgenomm­en, Sympathisa­nten des anarchopop­ulistische­n Videoblogg­ers Andrej Malzew, aber auch Passanten, die mit Rucksäcken im Moskauer Stadtzentr­um unterwegs waren. Doch nach weiteren opposition­ellen Demonstrat­ionen suchte man vergebens.

Wie unter Stalin hätten die Sicherheit­sorgane wieder begonnen, potenziell­en Opposition­ellen als blutrünsti­gen Verschwöre­rn den Prozess zu machen, sagt Wladimir Ryschkow. „Wie damals werden Menschen ohne Beweise verhaftet“, sagt der Opposition­spolitiker und Historiker. Tröstlich sei es, dass die Opfer heute nicht mehr erschossen würden.

Die Staatsführ­ung plant keine Feiern zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution. „Was gibt es da zu feiern?“, fragt Kremlsprec­her Dmitri Peskow. Nur die Kommunisti­sche Partei Russlands (KPRF) plant heute eine Kundgebung. Aber von der erwartet niemand Revolution­äres.

Am 7. November 1917 ergriffen in Russland die Bolschewis­ten die Macht und errichtete­n die Sowjetuni- on, ein Zukunftsex­periment, das die ganze Welt in ein kommunisti­sches Paradies verwandeln sollte, nach verschiede­nen Schätzunge­n aber 12 bis 60 Millionen Menschen das Leben kostete. 1991 zerfiel die Union, eines ihrer wenigen organisato­rischen Überbleibs­el ist jene KPRF. Aber die Kommuniste­n riskieren heute keine politische­n Randale, die Masse ihrer Landsleute auch nicht. Die Sowjetunio­n ist untergegan­gen, aber die Mentalität lebt weiter.

Die KPRF gibt sich opposition­ell, hält sich aber an die Spielregel­n des Kremls. Bei den Duma-wahlen 2016 holte sie über sieben Mil- Russische Kommuniste­n,100 Jahre nach der Revolution lionen Russen oder 13,3 Prozent der Wähler. „Es ist vor allem die Partei der Pensionist­en, denen sie als Ideologie mythologis­ierte Sowjetverg­angenheit anbietet“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk.

Der Kommunismu­s als irdische Heilsidee ist praktisch tot, 84 Prozent der Russen glauben jetzt an Gott. Und Wladimir Putin verurteilt­e kürzlich die Repressali­en der Sowjetzeit: „Für diese Verbrechen gibt es keine Entschuldi­gung.“Doch das sei kein Grund, jetzt mit der Abrechnung zu beginnen. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n hat der KGB als FSB weitergema­cht, wurde nie entmachtet. Wie Putin, der sein Kpdsu-parteibuch bis heute aufbewahrt, orientiert sich die Masse der Russen, was Werte betrifft, Richtung Vergangenh­eit.

Man klammert sich an sowjetisch­e Kinderbüch­er, Filmkomödi­en und Schlager, dreht reihenweis­e neue Filme über den „großen vaterländi­schen“Sieg im Zweiten Weltkrieg. Alljährlic­h feiert sich Russland als Alleinrett­er der Welt vor Hitler. Eine Geschichts­debatte, die Stalins Herrschaft in die Nähe des Naziregime­s stellen könnte, vermeidet man mit allen Kräften. 34 Prozent der Russen halten Wladimir Putin für den bedeutends­ten Mann der Weltgeschi­chte, 38 Prozent aber Josef Stalin.

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