Sie sah sich sogar als lasterhaftes Hühnchen
Der letzte Band der Gesamtausgabe derwerke Christine Lavants widerlegt einmal mehr das Image der Dichterin als Kopftuchweiblein. Herausgeber Klaus Amann über Überraschungen, fehlende Beistriche und ein gelenktes Missverständnis.
Eine Frau, die keine vier Jahre lang die Schule besucht hat, schreibt in der Nachkriegszeit in der Kärntner Provinz Erzählungen, die einen sieben Jahrzehnte später noch umhauen. So einzigartig sind Stil, Aussage, Milieuschilderung und Witz. Die vielen Seiten der Christine Lavant, die lange verkannt wurde und nun endlich den gebührenden Rang unter den bedeutendsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts einnimmt, zeigt die vierbändige Werkausgabe, die mit den „Erzählungen aus dem Nachlass“nunmehr abgeschlossen ist.
Nach einem Jahrzehnt Vorbereitung und fünf Jahren Arbeit an der Lavant-werkausgabe: Sind Sie denn nun erleichtert oder eher wehmütig?
KLAUS AMANN: Es ist eine große Freude, dass ein so riesiges Projekt zeitgerecht vollendet wurde. Auf der anderen Seite vermisse ich nun eine fast tägliche Begleiterin, mit der mich mehr verbindet als ein paar Tausend Seiten beschriebenes Papier. Es war sehr viel zu entdecken, literarisch und biografisch. Und viel zu recherchieren.
Zum Beispiel?
Ein Detail: Christine Lavant verwendet speziell in den Dialogen häufig Dialektbegriffe. Sie hat dieausdrücke nach dem Gehör aufgeschrieben, war aber schwerhörig, so war es oft schwierig festzustellen, was genau sie meinte. Da half nur, alte Menschen rund um St. Stefan im Lavanttal zu befragen.
Christine Lavant wollte irgendwann keine Prosa mehr veröffentlichen, weil sie die Reaktion der Leute fürchtete, die sich eventuell in ihren Texten erkennen könnten ...
Lavant hat nach dem Ende der Nazizeit, während der sie sich gleichsam unsichtbar machte, mit unglaublicher Energie und Begeisterung wieder angefangen zu schreiben. Innerhalbweniger Monate sind Hunderte Seiten Prosa entstanden und Hunderte von Gedichten. Der große Einbruch war 1950. Die Erzählung „Das Krüglein“, die im Wesentlichen ihre Familie und ihre Umgebung schildert, hatteaufsehen erregt, weil Leute sich als unvorteilhaft dargestellt empfunden haben. Für Christine Lavant, die – ohne geregelte Arbeit, Zigaretten rauchend, in der Nacht spazieren gehend, nach einem Suizidversuch in der Landesirrenanstalt – ohnehin als Außenseiterin und Sozialfall angesehen wurde, war diese Ablehnung durch die eigenen Leute ein großes Problem. Verständlicherweise sehnte sie sich nach Anerkennung und Zuwendung. So hörte sie Anfang der 1950er-jahre mit dem Prosaschreiben auf und war ab da auch mit dem Veröffentlichen von Prosa sehr zurückhaltend. Dazu kam: Der Otto-müller-verlag war im Grunde nur an ihrer Lyrik interessiert, mit der sie ja auch über Nacht berühmt wurde. Und in der Lyrik hatte sie bessere Möglichkeiten, das Autobiografische hinter Bildern, Metaphern und Symbolen zu verbergen.
Als Leserin mochte sie die Lyrik ja zunächst gar nicht, weil man dabei nicht stricken kann.
Lavant hat eine eigene Technik entwickelt, dasnotwendige mit dem Angenehmen zu verbinden: Sie konnte so zwar nur einfache Muster stricken, um den Lebensunterhalt für sich und ihren Mann zu verdienen, hat sich aber gleichzeitig mit exzessivem Lesen die Basis für ihr Schreiben angeeignet. Es ist erstaunlich, wie literarisch ausgefeilt sie ihren Lebenshorizont, ihre Erfahrungen, ihre Sehnsüchte in Literatur verwandelt. Sie erfindet nichts. Alles, was sie schreibt, ist durch ihre Person verbürgt. Es ist diewelt der einfachen Leute im Lavanttal, die ein Sinnbild für das Leben im Ganzen ist. Lavant hat sich von diesem Milieu nie losgesagt. Das hat dazu geführt, dass sie exakter und authentischer als alle anderen Autoren ihrer Generation die Welt der einfachen Leute, das Dorfmilieu, vor allem aber die innere Welt der Frauen und Kinder darstellt. Das macht ihre überragende