Die Vollendung der Arabischen Revolution
Hathem Bouali schüttelt den Kopf. „Mich interessieren diese Wahlen nicht – sieben Jahre ist dierevolution jetzt her und hat mir nichts gebracht.“Der 33-Jährige ist seit Ewigkeiten arbeitslos. Gelegentlich schlägt er sich als Tagelöhner durch wie viele Altersgenossen. Auf der Avenue Bourguiba, wo seine Mitbürger einst am 14. Jänner 2011 den Sturz ihres Diktators Ben Ali feierten, ist er an diesem Nachmittag mit ein paar Freunden unterwegs. Argwöhnisch äugt er auf die jungen Leute in weißen T-shirts, die wenige Meter weiter fröhlich tunesische Wimpel schwenken und zu plärrender Musik Flugblätter verteilen. Sie werben für Souad Abderrahim, die Spitzenkandidatin von Ennahda intunis. Die 53-jährige Apothekerin hat gute Chancen, bei den ersten Kommunalwahlen in der Geschichte Tunesiens Bürgermeisterin der Hauptstadt zu werden, auch weil sie nicht dem fromm-konservativen Klischee ihrer islamistischen Partei entspricht.
Souad Abderrahim trägt kein Kopftuch, dafür eine verspie- Martin Gehlen aus Tunis
Heute finden die ersten Kommunalwahlen in der Geschichte Tunesiens statt, die zu einer neuen Verteilung von Macht und Finanzen in dem seit seiner Gründung 1956 hoch zentralisierten Staat führen sollen.
gelte Sonnenbrille und eine Handtasche. Unbefangen geht sie auf Passanten zu, umihr Programm vorzustellen. Problem Nummer eins sei die bröckelnde Infrastruktur, sagt sie, der Dreck in den Straßen, der Zustand der Schulen, der schlechte öffentliche Nahverkehr, die heruntergekommenen Stadtparks. „Wir wollen dies wieder in Ordnung bringen“, verspricht sie, „aber das braucht Zeit – und Geld.“Die meisten hören ihr aufmerksam zu und stecken das Flugblatt ein. „Ich finde gut, was sie vorhat, aber ich werde sie trotzdem nicht wählen“, sagt Riahi Abdellah, der seit zwei Jahren in Rente ist. Sein Herz schlägt links, für den „Courant démocrate“, eine kleine sozialdemokratische Partei.
Schärfster Konkurrent um das Bürgermeisteramt ist Kamel Idir, eine schillernde Figur von Nidaa Tounes, der Partei von Staatschef Beji Caid Essebsi, in der sich viele alte Regimegrößen tummeln. Der populäre ExHandballstar und langjährige Präsident des tunesischen Fußball-rekordmeisters „Club Africain“ist Doktor der Pharmazie, war Mitglied im Zentralkomitee der Staatspartei von Ben Ali und zuletzt im Gesundheitsministerium tätig. Bei seiner Wahlkampftour durch Cafés, Märkte und Geschäfte des Plattenbauviertelscité Olympique nahe dem Flughafen gibt er sich in blauem Blazer und weißem Seidenschal bereits siegessicher und staatsmännisch. Er verspricht mehr sozialen Wohnungsbau, mehr Grünflächen und Kindergärten sowie ein härteres Vorgehen gegen die fliegenden Händler, die sich auf den Bürgersteigen breitmachen. „Sie sollten zur Wahl gehen, Sie sollten mitmachen und Ihre Verantwortung wahrnehmen“, redet er unterwegs im Café Rayhana zwei jungen Männern ins Gewissen, zu denen er sich ein paar Minuten an den Tisch setzt. Er habe bei den Parlamentswahlen 2014 für Nidaa Tounes gestimmt, entgegnet ihm der eine. Die Partei hätte viel versprochen, aber höchstens zehn Prozent gehalten. Diesmal gehe er nicht wählen. „Diesen Fehler habe ich einmal gemacht, den mache ich kein zweites Mal.“
5,3 Millionen Bürger sind am 6. Mai aufgerufen, erstmals kommunale Volksvertretungen zu wählen. Für das bisher stramm zentralistische Land ist dies ein weiterer Meilenstein seiner jungen Demokratie. Städte und Gemeinden sollen künftig nicht mehr vom fernen Tunis aus gesteuert werden, sondern wichtige Angelegenheiten in eigener politischerregie entscheiden – eine Pioniertat, die dem Land mit der Zeit ein ganz neues Gepräge geben dürfte.
Doch auch in der Wiege des Arabischen Frühlings, die sich diese Dezentralisierung 2014 ausdrücklich in ihre post-revolutionäreverfassung schrieb, sind