Ein dichter Reigen aus Kunst und Liebe
Das große Hamburg Ballett gastierte mit John Neumeiers Sicht auf „Die Möwe“.
John
Neumeier ist der Meister des zeitgenössischen Handlungsballetts. Niemand außer dem 79-Jährigen hat jemals vermocht, den Wechsel von Literatur in Tanz so gelungen zu vollziehen. Vertanzt ist schnell etwas, aber eine echte Transformation, deren Sinn außer Frage steht, bringen die wenigsten zustande.
„Diemöwe“ist wieder so ein Glücksfall. Der Us-choreograph, seit 1973 Intendant des Hamburg Balletts, hat ein Faible für russische Literatur. 2002 widmete er sich Anton Tschechows fein ziseliertem Konversationsstück, in dem jeder den Falschen liebt und Kunst sowie bürgerlichewerte verhandelt werden.
Nun war auch zwei Mal im Theater in der Wien zu sehen, wie genial Neumeier den Text destilliert und zu einer Essenz dessen kommt, worum es geht. Keine einzige Bewegung überlässt er der Beliebigkeit. Auch die Story hat er seinem Zweck angepasst und aus der Starschauspielerin Arkadina eine alternde Primaballerina gemacht (Anna Laudere). Ihr Liebhaber Trigorin (Dario Franconi), bei Tschechow ein mittelmäßiger Schriftsteller, wird hier zum durchschnittlichen Choreographen. Arkadinas Sohn Kostja (Artem Ovcharenko) ist auch Choreograph, aber eines neuen, modernen Stils, und die erfolgshungrige Nina (Alina Cojocaru) ist ehrgeizige Tänzerin.
Neumeier verdichtet mehrere Ebenen, wie das Theater im Theater, wenn Kostjas Tanzstück gezeigt wird, köstlich mit Kostümen inspiriert von der russischen Avantgarde, im Tanzstil Nijinskys oder von Schlemmers Triadischem Ballett. Auch klassischer Tanz wird liebevoll parodiert, in einem Divertissement aus blauem Tüll, eine Art „Ballett bleu“. Und auch Revuetanz ist dabei, denn Nina landet dort.
Alles ein Höchstgenuss, auch dank des Top-niveaus der Hamburger Tänzer. Das Wiener Kammerorchester brachte unter der Leitung von Markus Lehtinen die Musik von Schostakowitsch, Tschaikowski u. a. zum akustischen Funkeln. Nicht enden wollende Standing Ovations für alle und besonders für den Altmeister, der sich gerührt vom Wiener Publikum zeigte.
Barbara Freitag www.hamburgballett.de TADW/KIRAN WEST