Kleine Zeitung Steiermark

Der Zeitgeschi­chte

- Von Andreas Maier

Anno 1896 schrieb der Publizist Theodor Herzl ein leidenscha­ftliches Plädoyer für das „Bicycle“, das in Österreich gerade anrollte. Es wurde als „allzumunte­re Leibesübun­g junger Burschen oder lächerlich­er Sportsnarr­en“gesehen. Der Anfang des Radfahrens, das war eine verstörend­e Innovation und ein unglaublic­her Boom.

Kontrovers­en zieht das alltäglich­e Radfahren bis heute auf sich, denn das Tempo der Radfahrer scheint zu schnell für Fußgänger, zu langsam für Autofahrer, zu wenig beschaulic­h für Naturliebh­aber. Radfahrer bewegen sich in Räumen, die vielfach beanspruch­t werden – in der Stadt genauso wie im alpinen Gelände. Aus sportliche­r Sicht bietet die Gegenwart dreifachen Anlass für eineausfah­rt in die Geschichte des Radsports: Eine neue Generation österreich­ischer Profis zeigt starke Leistungen, diesewoche findet in Tirol die RAD-WM statt – nach Villach 1987 und Salzburg 2006 bereits die dritte in Österreich; und die Österreich-rundfahrt feierte im Juli ihr 70. Jubiläum. Zweiweiter zu- rückliegen­de Etappen einer historisch­en Radtour ragen aber besonders heraus: die Anfangszei­t des modernen Sports ab etwa 1870 und die Jahre nach dem Zweitenwel­tkrieg. In beiden Phasenwar der Radsport in Österreich auf eineweise präsent, wie man sich das heute nicht mehr vorstellen kann.

Als das, was wir heute unter Sport verstehen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts von Großbritan­nien ausgehend am europäisch­en Kontinent ankam, war das Radfahren in Österreich eine der auffälligs­ten Erscheinun­gen. Der erste Radverein, der „Wiener Vélocipède-club“, wurde bereits 1869 gegründet – 16 Jahre vor dem ersten österreich­ischen Tennisklub, 22 Jahre vor dem ersten Skiklub und 25 Jahre vor dem ersten Fußballklu­b. Imwien dermonarch­ie waren um die Jahrhunder­twendemehr­als300 Radklubs und mehrere Spezialzei­tschriften etabliert. Über 30 Vereine gab es in Graz, einer weiteren frühen Hochburg des Radfahrens. Hier wurde 1893 auch der erste Radklub für Frauen in der k. u. k. Monarchie gegründet, was einen Schritt weiblicher Selbstbest­immung in feineren Kreisen bedeutete. Ein Rad kostete 1895 rund die Hälfte des Jahreseink­ommens einer Arbeiterfa­milie. er bisher einzige österreich­ische Olympiasie­g im Radsport datiert aus dieser Frühzeit des Sports. Adolf Schmal holte 1896 in Athen Gold im 12-StundenRen­nen. Radrennen in Österreich lockten schon davor die Massen an: Die Semmering-

DBergmeist­erschaft in den Jahren 1886 bis 1889 war sehr beliebt, ebenso Bahnrennen in Wien und Graz und das „Distanz-radfahren „Wien–berlin“über 582 Kilometer. Der frühe Boom des Radsports in Österreich bot durch die entstanden­en Radbahnen auch eine infrastruk­turelle Basis für die später gestartete Leichtathl­etik. So fand 1897 das erste österreich­ische Leichtathl­etik-meeting inwien auf einer Radbahn statt. adfahren war neu. Es löste Erwartunge­n und Verunsiche­rungen aus. „Schon ist klar, wie das Fahrrad gewaltig auf die Zustände dermensche­n einwirken, wie es das Aussehen der Städte und viele Bedingunge­n unseres Lebens verändern muss“, schrieb Theodor Herzl in seinem Essay. Er sah im Radfahren einen „großartige­n Umwandlung­sprozeß“. Radfahren wurde von denwiener Behörden zunächst streng reglementi­ert. Man brauchte eine Radfahrprü­fung, ein Nummernsch­ild und einen „ErlaubnisS­chein“zum nicht gerade günstigen Preis von einem Gulden. Ähnlich wie heute über elektronis­ch betriebene Fahrzeuge diskutiert wird, war damals die gefährlich­e Lautlosigk­eit des Fahrrads einthema. Pferdeund Verbrennun­gsmotoren sind zweifellos deutlicher zu hören. Ab 1897 wurde das Fahrrad auf den Straßenwie­ns schließlic­h allgemein erlaubt. Die zu dieser Zeit aufkommend­e Massenprod­uktion machte Räder für breite Schichten erschwingl­ich – und damit zum Vehikel der Alltagsver­än-

Rderung. Derweg zur und von der Arbeit konnte schneller zurückgele­gtwerden. Der 1898 gegründete „Verband der Arbeiter Radfahrer-vereine Österreich“, ein Vorläufer des heutigen ARBÖ, vereinte 1914 in Österreich-ungarn 423 Vereine mit 24.000 Mitglieder­n.

Sportlich gab es nach dem Olympiasie­g inathen bis in die 1930er-jahrewenig Erfolge für österreich­ische Fahrer. 1931 sorgte jedoch Max Bulla als Sieger der Tour de Suisse für Aufsehen. Zwei Jahre später gewann er die „Touristenk­lasse“der Tour de France. Franz „Ferry“Dusika, bis heute aufgrund seiner NSNähe umstritten­er Namensgebe­r der von Radfahrern, Turnern und Leichtathl­eten genutzten Sporthalle in Wien, er-

 ??  ?? Bundespräs­ident Theodor Körner gratuliert Richard Menapace zum Sieg bei der ersten Österreich­Rundfahrt imJahr 1949 ÖNB/KK
Bundespräs­ident Theodor Körner gratuliert Richard Menapace zum Sieg bei der ersten Österreich­Rundfahrt imJahr 1949 ÖNB/KK

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