Kleine Zeitung Steiermark

Balkon-revolution­en

Hundert Jahre nach der Proklamati­on der Republik Deutschöst­erreich verkünden Schauspiel­er in über siebzig Städten die Republik Europa – ein Gegenmanif­est.

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Balkons, das weltliche Pendant zur Kanzel, eignen sich vorzüglich zur Proklamati­on von Umstürzen. Die Ddrließ den Mauervorsp­rung, den Karl Liebknecht zur Ausrufung derrepubli­k genutzt hatte, sogar aus dem Berliner Stadtschlo­ss der Hohenzolle­rn brechen, ehe sie dieses dem Erdboden gleichmach­te. Das historisch­e Relikt ließ man in die moderne Fassade ihres Staatsrats­gebäudes einfügen.

Hundert Jahre nach der Ausrufung der Republiken in Deutschlan­d und Österreich stand Peter Simonische­k auf dem Balkon des Burgtheate­rs. Von hier aus schweift der Blick ungehinder­t zum sogenannte­n Altan der Neuen Hofburg, von dem ausadolf Hitler vor 80 Jahren den Anschluss Österreich­s verkündet hatte. Auch die Parlaments­rampe, die befahrbare Riesenvari­ante eines Balkons und Ort der Ausrufung der Ersten Republik, lag in seinem Blickfeld.

Es war eine schöne Idee des Schriftste­llers Robert Menasse und der Politologi­n Ulrike Guérot, den republikan­ischen Anlass zu einer europäisch­en Manifestat­ion zu nutzen. Gleich- zeitig sollte ihr Text an siebzig Orten Europas Theaterbal­kons schallen.

„The European BalconyPro­ject“aber erwies sich als hanebüchen­es, realitätsf­remdes politische­s „Manifest“. Es lädt die Bewohner andererkon­tinente freundlich nach Europa ein, da wir ja an ihrer Vertreibun­g die Schuld trügen. „Der Nationalst­aat ist gescheiter­t“, verkündet die Schrift kühn und gipfelt in der Aussage: „Europäer ist, wer es sein will.“Der Anlass hätte gründliche­re Reflexion verdient als das verblasene Wunschdenk­en der Autoren.

Ein Gegenmanif­est käme ohne tiefe Verneigung vor der Lernfähigk­eit aller Beteiligte­n am großen Völkerschl­achten zweierwelt­kriege nicht vorbei. Wie anders als in nationalst­aatlichem Rahmen hätte sich denn der Neubeginn abspielen sollen? Staaten haben die Kriege geführt, Staaten müssen die über von Feindschaf­t überwinden. Ihr freiwillig­er Zusammensc­hluss in der Europäisch­en Union stellt das kühnste politische Experiment dar, das die Menschheit­sgeschicht­e verzeichne­t. Die Union gründet auf der Verpflicht­ung ihrer Mitglieder zur „immer engeren“Zusammenar­beit. Mitglieder aber sind die Staaten, nicht die Bürger.

Ein Gegenmanif­est müsste die Leistung des angeblich gescheiter­ten Nationalst­aats Österreich hervorhebe­n: Seine späte Aussöhnung mit der eigenen Geschichte nach Jahren des Vergessens, die Aussöhnung mit dem einstigen Kaiserhaus, dessen letzter Kaiser heute vor hundert Jahren abgedankt hatte. Die Schaffung eines wohldotier­ten sozialen Netzes, das ein friedliche­s Zusammenle­ben der Bürger erst möglich macht. ie Absetzung des Europäisch­en Rats, also der Repräsenta­nten der geschmähte­n Nationalst­aaten, die das Manifest forsch verkündet, wäre aus all diesen Gründen kein Fortschrit­t, sondern das sofortige Ende des europäisch­en Projekts. Ein Glück, dass diese Balkon-revolution nur im Theater stattfand.

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