„Wir brauchen ein moralisches Minimum“
„Warum gehen wir nicht in einen Käuferstreik?“Ute Frevert liefert eine ungemütliche Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft.
Die Hoffnungen auf eine Gesellschaft, in der man nicht seines Nachbarn Feind ist, haben sich nur bedingt erfüllt. Daraus haben wir heute den Schluss gezogen, dass Gesellschaften ein moralisches Minimum brauchen, um zu funktionieren, aber nicht unbedingt ein Maximum an Empathie, Zuwendung, Wohlwollen und Vertrauen.
Schaffen wir das moralische Minimalniveau? Lässt der Kapitalismus als Wohlstandslieferant Platz für Moral?
Wir haben in 200 Jahren Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus eine Wertehaltung entwickelt, die uns in die Lage versetzt, mit Problemen nicht repressiv bewahrend, nicht einkapselnd umzugehen, sondern uns zukunftsfähig zu halten. Dieser moralische Habitus hat sich in kritischer Auseinandersetzung mit einer Wirtschaft herausgebildet, die sich von sich aus um Moral nicht schert.
Statt Moral Aktionstage, Angebote, Rabatte, Schlussverkäufe allerorts und pausenlos. Gier ist gut, Geiz ist geil: Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Sie ist ziemlich widerlich. Die Slogans appellieren an unsere schlechtesten Eigenschaften und schlagen all dem ins Gesicht, wozu wir unsere Kinder erziehen könnten beziehungsweise sollten. Dass wir uns als Konsumenten darauf einlassen, ist bemerkenswert. Warum gehen wir nicht in einen Käuferstreik? Die Macht dazu hätten wir.
Stattdessen fühlen wir uns mittlerweile gerne als Opfer des Systems. Zu Recht?
Der Kapitalismus – das sind ja nicht nur ein paar gierige Unternehmer, Finanzjongleure oder großformatige Steuerbetrüger. Wir sind alle Teil des Systems, und in Europa profitieren wir massiv davon. Keine Generation hat besser gelebt als unsere, hat mehr konsumiert,