Die missverstandene Weltgeschichtsformel
Für Francis Fukuyama liegt im Verlust von Identität die Kerngefahr für Demokratie.
Vor genau 40 Jahren formulierte der Us-politologe Francis Fukuyama im Aufsatz für „The National Interest“eine aufsehenerregende These. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Sozialismus als staatliches Gegenmodell zu liberaler Demokratie und Marktwirtschaft setzte sich letzteres Ordnungsmodell durch, und mit diesem Siegeszug entfalle das Antriebsmoment für Geschichte. Er nannte seine These „Das Ende der Geschichte“und machte sie in Buchform 1992 zum Weltbestseller. Er erntet dafür Häme und Kritik aus der Zunft der Historiker. Doch in der neuen Unordnung der Welt wird Fukuyama wieder gelesen und neu interpretiert. Höchste Zeit also für den Stanford-professor, den erstarkenden Populismus, der für die globale Unordnung mitverantwortlich ist, in sein Modell einzuordnen. Das heißt konkret, sich der fehlenden Möglichkeit anzunehmen, dass die Demokratie einen Rückschritt vollzieht. Er konzentriert sich in „Identität“aber weniger auf die wirtschaftlichen Implikationen für den Aufstieg der Populisten.
Fukuyama beleuchtet die kulturellen Rahmenbedingungen. Seiner Ansicht nach hat sich die Bedrohung von außen nach innen gestülpt. Nicht mehr illiberale Gesellschaften sind der Feind der Demokratie, sondern Teile der liberalen Gesellschaft, die sich nach Würde und Anerkennung sehnen und zu politischen Lösungen greifen, die diesen Bedürfnissen eine Erfüllung versprechen. Identität und Leitkultur scheinen im Diskurs zwischen der politischen Linken und Rechten zu Kampfbegriffen zu verkommen, deshalb greift Fukuyama diese Begriffe auf und gibt der Identitätspolitik ein historisches Fundament. Gleichzeitig denkt der Autor auf diesem Modell weiter. Löse man Rasse, Ethnie oder Religion als verbindende Elemente aus der Identitätspolitik und ersetze sie durch ein staatsbürgerliches Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit sowie Gleichberechtigung, würde ein völlig neues Nationalbewusstsein möglich sein. Ein spannendes Gedankenspiel – das sicher wieder zu heftigem Widerspruch führen wird.