Grauen für alle
Das live übertragene Video vom Christchurch-attentat ließ Facebook an seine Grenzen stoßen: Ist totale Kontrolle auf Plattformen, die auf Verbreitung basieren, umsetzbar?
Grauen – gestreamt und geteilt: Dem für 50 Tote verantwortlichen Attentäter von Christchurch ging es nicht nur darum, möglichst viele Leben auszulöschen. Er wollte auch die maximal erreichbare Anzahl von Menschen dabei zusehen lassen. Auch der Terror funktioniert 2019 multimedial.
Ein von den Tätern gewollter Flächenbrand, der nicht mehr restlos einzudämmen ist. Das mit einer Helmkamera aufgenommene, 17-minütige Video des Massenmordes wurde von Beginn an live über Facebook ausgestrahlt, angeschaut und in weiterer Folge, ja, und das muss man so sagen, von Usern völlig schamfrei weiterverbreitet. Offenkundig wurde so nicht nur der abartige Narzissmus des nicht zuletzt am Abzug moderner Technologie ziehenden Todesschützen: Sichtbar wurde auch, an welche Grenzen selbst und gerade Internetriesen wie das soziale Netzwerk stoßen, wenn es darum geht, zu kontrollieren und Inhalte zu entfernen. Der Wille mag vorhanden sein, doch die Quantität der Einträge lässt Sisyphos Steine den Berg hinaufrollen. Das Netz ist vieles – aber vergesslich ist es nicht.
Diese Pest streut in Windeseile. In den ersten 24 Stunden nach dem Anschlag wurden 1,5 Millionen Videos der Tat aus dem Netzwerk gelöscht. 1,2 Millionen davon wurden gerade hochgeladen. Angesichts der steten Posting-tsunamis ist es Illusion, zu glauben, das Problem neutralisieren zu können. Das Massaker in Neuseeland war beileibe nicht die erste Gewalttat, die live auf Facebook übertragen wurde: Im Jahr 2017 konnten Facebook-user live dabei zusehen, wie in den USA ein Pensionist ermordet wurde.
Wer Podien anbietet, steht auch in der Pflicht, sie sauber zu halten. Das Mindeste, das Facebook mit seinen 1,52 Milliarden (!) täglich aktiven Benutzern tun muss: noch mehr Personal aufbieten, sich nach Kräften entgegenstemmen. Zusätzliche „Cleaner“, an denen es liegt, Einzelfall um Einzelfall anzuschauen und bei Bedarf durch- zugreifen, sind unumgänglich. Software alleine, die digitale Fingerabdrücke für nicht zu tolerierende Dateien erstellt, kann das Problem nicht lösen. Die Kritik, zu spät selbst aktiv geworden zu sein, muss sich das soziale Netzwerk sehr wohl gefallen lassen. Nicht zuletzt wird sich auch die Politik den Realitäten stellen und gegebenenfalls rigoros handeln müssen. bseits der Verantwortung von Facebook und Co. für jene Inhalte, denen man – unfreiwillig – eine Plattform bietet: Wie weit hat sich eine Menschheit, die nichts weiter daran findet, solche Videos umherzureichen oder sich gar daran zu delektieren, im unmoralischen Unterholz verirrt? Der erste Nutzeralarm, der Facebook dann aufschreckte, kam erst zwölf Minuten nach Ende des Livestreams. Ein Reinigungsprozess, der an vielen Stellen stattfinden muss. Dass man ein Gewaltvideo wie jenes aus Neuseeland sogar politisch missbrauchen kann, bewies indes der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an: Er zeigt Teile des Clips bei Wahlkampfveranstaltungen – auch verpixelt nicht weniger widerlich.
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