Der Rückschritt beim Rücktritt
Von Franzobel
Am Mittwoch fällt in Österreich wieder einmal die Sonne vom Himmel, aber diesmal mit Anlauf. Annaberg im Lammertal wird zu Jammerberg im Jammertal. Bei der meistbeachteten Pressekonferenz des Jahres wird Marcel Hirscher, Österreichs erfolgreichster Skifahrer aller Zeiten, zur Primetime seinen Rücktritt verkünden. Der Liveübertragung im staatlichen Fernsehen werden mehr Menschen zusehen als der Neujahrsansprache des Bundespräsidenten. Zu erwarten sind greinende Kinder, Frauen, die sich Kontaktlinsen aus den Augen weinen, zitternde Greise und zahlreiche Notfälle, bei denen Defibrillatoren zum Einsatz kommen. Manch einer wird vor Exaltiertheit seine Darmwinde nicht mehr unter Kontrolle haben, Alkohol wird fließen und der Konsum von Schmerztabletten wird in die Höhe schießen. Vor öffentlichen Gebäuden werden Fahnen auf halbmast gesetzt, und das Fußball-nationalteam wird die nächsten Jahrzehnte mit schwarzen Armbinden auflaufen.
In Österreich beginnt am 4. September die Eiszeit, denn der Serienweltcupgesamtsieger und Medaillenhamsterer ist nicht zu ersetzen. Nichts wird es mit La Decima, den zehn Weltcupgesamtsiegen, und auch Stenmarks Rekord an Siegen (86) bleibt der Ewigkeit, dabei wären Hirscher die noch fehlenden 19 durchaus zuzutrauen gewesen. Zumindest ein Skandinavier wird also aufatmen, während sich ein anderer, Henrik Kristoffer
sen, wohl den Kopf zerbricht, hinter wem er jetzt Zweiter werden soll.
Hirscher hat genug gewonnen, um sich nur noch mit Familie, Motorrädern und Werbespots zu beschäftigen. Aber ein kleiner Patzer ist dem Perfektionisten doch unterlaufen. Irgendjemand hat nämlich nicht dichtgehalten. Vielleicht ein Servicemann, ein Skiwachsler, Brillenpolierer oder Faszienzieher, vielleicht ein Torstangenbewässerer oder Stöckebieger, jedenfalls ist Hirschers Rücktritt viel zu früh publik geworden und es stellt sich jetzt die Frage, was der Hirschernator verkünden will. Wo er mit seiner Laura den nächsten Urlaub verbringt, welcher Gemüsebrei seinem Söhnchen Bäuerchen verursacht oder ein Gastauftritt bei der Werbefamilie Putz sind nicht gerade Bringer für internationale Medien. Er kann also nur verlautbaren, was alle wissen, womit diese PK zur Farce wird, zur hohlen Show.
Oder sollte sich Marcel Hirscher, dieser tüftelnde Perfektionist, der das Skifahren in eine neue Dimension katapultiert hat, auch dafür etwas überlegt haben? Vielleicht verkündet er seinen Wechsel nach China? Oder baut er in Katar einen eigenen Weltcupzirkus auf ? Möglicherweise macht er nur ein Jahr Babypause? Oder fährt bloß noch Schladming und Kitzbühel? Einem Hirscher ist alles zuzutrauen, nur der Rücktritt vom Rücktritt, den sich alle Österreicher wünschen, ist unwahrscheinlich. Franzobel, 1967 in Vöcklabruck geboren, ist Schriftsteller und Sportfan.