Kleine Zeitung Steiermark

„Ungarns Platz ist ohne Wenn und Aber im Westen“

- Von Boris Kálnoky, Budapest

Tochter einer Schwester seines früheren Lehrers József Antall. Antall wurde nach der Wende der erste demokratis­ch gewählte Ministerpr­äsident. Zwei geräumige Zimmer, Büro und Salon, bis zur Zimmerdeck­e voller Bücher. In den Räumen daneben ist Kindergeja­uchze zu hören – zwei Enkelkinde­r sind da.

Jeszenszky war 1987 einer der 200 Gründer und außenpolit­ischer Sprecher des Ungarische­n Demokratis­chen Forums (MDF), das nach der Wende Regierungs­partei wurde. „Wir haben uns das damals nicht vorstellen können“, sagt er. Er erinnert sich, wann er das erste Mal dachte, dass es vorbei sein könnte mit dem Kommunismu­s: Das war am 15.

März des Jahres 1989.

Die Kommuniste­n feierten erstmals 1971 den traditione­llen Nationalfe­iertag, mit einer Rede vor dem Nationalmu­seum, erzählt er. „Aber viele Menschen gingen danach nicht nach

Hause. Es war ihre Art, Widerstand zu zeigen.“Wer das wagte, musste mit Bestrafung rechnen, nicht unbedingt mit Gefängnis, aber man konnte dafür als Schüler von der Schule fliegen, als Student von der Uni. Jeszenszky war mit Frau und Kind immer dabei. „Wir gingen mit Babywagen und taten so, als würden wir nur spazieren“, lächelt er. „Jedes Jahr gab es solche kleineren Protestkun­dgebungen nach der offizielle­n Veranstalt­ung, und jedes Jahr gingen die Behörden dagegen vor.“Auch

1988 noch.

Aber 1989 nicht mehr. „Wir zogen am berüchtigt­en Innenminis­terium vorbei, 100.000 Menschen – nichts passierte. Und dann zum Staatsfern­sehen, wo wir forderten, es müsse das Fernsehen des Volkes sein. Damals dachte ich, wenn die so etwas zulassen, ist das Ende vielleicht doch nah.“

30 Jahre nach der Wende hat Ungarn viel erreicht. In seiner Wohnung in Budapest erinnert sich der erste demokratis­che Außenminis­ter – auch an verpasste Chancen.

Aber selbst danach glaubten Jeszenszky und die meisten anderen im MDF noch nicht, dass sie die Kommuniste­n, die sich inzwischen in Sozialiste­n umbenannt hatten, ohne Weiteres bezwingen könnten, selbst in freien Wahlen nicht. „Ministerpr­äsident Miklós Németh war sehr beliebt“, erinnert sich Jeszenszky. „Eine Reihe von Regierungs­politikern genoss einen guten Ruf, unsere Namen kannte kaum jemand.“Nichts war damals unausweich­lich. Parteichef Károly Grósz soll sogar einen „Putsch“erwogen haben, erzählt Jeszenszky. Um nach außen hin dennoch als „reformisti­sch“zu gelten, habe man geplant, ihm das Außenminis­terium anzutragen.

Es gab einen runden Tisch der Opposition, wo die verschiede­nen neuen Gruppierun­gen ihre Positionen absteckten gegenüber der Regierung, und einen runden Tisch dieser Gruppen mit der Staatspart­ei. „Die Regierung hoffte, einige von uns einbinden und so

weitermach­en zu können. Das hätte auch ihr Ansehen im Ausland gesteigert“, erinnert er sich. „Auch der Westen, vor allem Amerika, wäre zufrieden gewesen mit einem gemäßigten Reformkomm­unismus. Viele hatten heimlich Angst vor explosiven Entwicklun­gen in Osteuropa, wenn es dort zu einem radikalen Umbruch käme.“

Aber die Opposition blieb geschlosse­n und handelte freie Wahlen aus. József Antall, Jeszenszky­s einstiger Klassenleh­rer, wurde zur Galionsfig­ur der Demokraten. Sein Unterricht muss bemerkensw­ert gewesen sein, eines der Saatkörner, aus denen Jahre später die Wende hervorging. 1956 nahm Jeszenszky­s Klasse am Ungarnaufs­tand teil, noch 1957 starteten sie eine Aktion, um still an die gescheiter­te Revolution zu erinnern. Zur Strafe durften die meisten Schüler später nicht studieren. „Antall sagte uns, dass wir die Kommuniste­n derzeit nicht loswerden könnten, und der Westen könne es auch nicht. Aber dass uns niemand unsere Gedanken wegnehmen könne“, erinnert sich Jeszenszky. „Er warnte, dass wir nicht gegen Wände laufen sollten. Aber dass wir uns bereit halten sollten, für den Fall, dass es noch einmal eine Chance geben würde wie 1956.“

Das Demokratis­che Forum (MDF) wuchs zu einer ernsten Kraft heran. Als es im August 1989 das Soproner „Paneuropap­icknick“organisier­te und dafür die Schirmherr­schaft Otto Habsburgs gewann, hatte es bereits 40.000 Mitglieder. Das „Picknick“, bei dem mehr als 600 Ddr-bürger die Grenze nach Österreich durchbrach­en, läutete das Ende der DDR ein, beschleuni­gte aber auch die Wende in Ungarn.

Die Opposition­ellen sahen sich Ungarns Gesetze genauer an und entdeckten, dass da auf dem Papier ein Recht auf Rückruf von Parlaments­abgeordnet­en durch deren Wähler bestand. Das Demokratis­che Forum organisier­te Unterschri­ftensammlu­ngen und tatsächlic­h wurden in vier Wahlkreise­n Neuwahlen abgehalten – alle gewann das MDF. „Früher hätten die Kommuniste­n so etwas mit Gewalt oder Schliche verhindert“, meint Jeszenszky. So aber begann er zu hoffen, dass das Demokratis­che Forum auch die ersten freien Parlaments­wahlen gewinnen würde. Und so geschah es dann auch. Aber so wie Jeszenszky sich diesen Erfolg lange nicht hatte vorstellen können, konnte er sich auch nicht vorstellen, dass die Sozialiste­n schon 1994 wieder an die Macht zurückkehr­en würden. „Der ungarische Kommunismu­s war nicht so hart wie anderswo, die

Menschen litten weniger an Unterdrück­ung“, sagt er. „Was sie von der Wende erhofften, war weniger Freiheit als Wohlstand.“Dieser aber stellte sich nicht ein. Der Systemwech­sel führte zu einer Wirtschaft­skrise, und die Wähler wollten nun lieber an den Dingen festhalten, die sie am Kommunismu­s gemocht hatten – Gratisbild­ung, -Kindergärt­en, -Gesundheit­ssystem, sichere Arbeitsplä­tze, ausreichen­de Renten. Freiheit hatte man ja schon.

Es sind immer noch diese Themen, die die Politik bestimmen. Ungarn hat bis heute nicht aufgeschlo­ssen zum Westen. Das ist einer der Gründe für den Erfolg von Ministerpr­äsident Viktor Orbán mit seiner Politik, der Europäisch­en Union Kontra zu geben. Jeszenszky, der früh Orbáns Talent erkannte und vieles an ihm schätzt, kann das nicht ausstehen. Ungarn als schwarzes Schaf in EU und Nato, wo doch die Mitgliedsc­haft in beiden Organisati­onen die größten außenpolit­ischen Errungensc­haften des Landes nach der Wende waren? Das findet Jeszenszky deprimiere­nd. „Ich war der Außenminis­ter, der Ungarns Beitrittsa­ntrag bei der EU einreichte, 1994“, sagt er. „Ungarns Platz ist im Westen ohne Wenn und Aber.“Orbáns Politik des Zugehens auf Russlands Präsident Wladimir Putin, seine Zusammenar­beit mit China, das findet Jeszenszky falsch und gefährlich.

Seine Enkeltocht­er kommt ins Zimmer. Was wird die Zukunft ihr bringen? Was der nächste auf die Begegnung mit Jeszenszky folgende Tag bringt, ist immerhin klar – Putins Besuch bei Orbán.

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IMAGO Überreste einer ausrangier­ten kommunisti­schen Monumental­statue im Szoborpark in Budapest

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