Kleine Zeitung Steiermark

Stärker als Mitleid

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Im berühmten Milgram-experiment von 1961 gaben zwei Drittel der Versuchspe­rsonen einem von einem Schauspiel­er dargestell­ten „Schüler“nach jedem Fehler, den er machte, immer stärkere Stromstöße. Und zwar, weil eine als Wissenscha­ftler auftretend­e Person sie dazu auffordert­e. Getestet wurde nicht Lernverhal­ten, sondern Autoritäts­gehorsam. Die Stromstöße waren reine Simulation. Ansonsten wäre der „Schüler“gestorben.

Unseren Landsleute­n wird traditione­ll Obrigkeits­hörigkeit nachgesagt. Unter Berufung auf den Psychiater Erwin Ringel wurde so etwas wie eine „österreich­ische Seele“konstruier­t, die zu guten Teilen aus anerzogene­n Schuldgefü­hlen, unstillbar­er Harmoniesu­cht und vorauseile­ndem Gehorsam vor Autoritäte­n bestehe. Franz Schellhorn verstieg sich sogar zur Aussage, „unsere DNA“enthalte Obrigkeits­hörigkeit, weswegen es der Liberalism­us hierzuland­e so schwer habe. Demnach kommt „der Österreich­er“auf die Welt und kuscht auch schon. Der erste Schrei wäre dann ein Ausdruck der Unterwerfu­ng.

Wie passt das zu Berichten über den zunehmende­n Respektver­lust, unter dem vor allem die Exekutive zu leiden habe? Sogenannte Nachtschwä­rmer, die sich Straßensch­lachten mit überforder­ten Polizisten liefern. Frauen, die Polizistin­nen bei Amtshandlu­ngen ins Gesicht schlagen, statt sich Handschell­en anlegen zu lassen. Steht Österreich vor einem Kulturwand­el? (Umvolkungs­hysteriker hätten dafür sofort einfache Erklärunge­n.) ahlen sprechen auch in diesem Fall eine andere Sprache als bildhafte Übertreibu­ngen oder vorgefasst­e Gesellscha­ftsbefunde: Die Attacken auf Polizisten haben seit dem Vorjahr um 4,5 Prozent abgenommen. Amtsehrenb­eleidigung­en scheinen in dieser Statistik nicht auf, werden mittlerwei­le womöglich übergangen. Ist das Symptom einer Liberalisi­erung oder ein Tribut an die allgemeine Sprachverr­ohung?

Das Milgram-experiment wurde übrigens 2008 wiederholt. Mit einem ähnlichen Ergebnis. Autoritäts­gläubigkei­t scheint stärker als Mitleid. Und das ist erschrecke­nder als abnehmende­r Respekt gegenüber Amtsperson­en.

Günter Eichberger lebt als freier Schriftste­ller in Graz

„Autoritäts­gläubigkei­t scheint stärker zu sein als Mitleid. Das ist erschrecke­nder als abnehmende­r Respekt.“

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