Kleine Zeitung Steiermark

„Wir erleben kulturelle­n Wahnsinn“

- Von Ingo Hasewend

Salman Rushdie tourt mit seinem Buch „Quichotte“durch Europa. Den Mauerfall feierte er am 9. November in Berlin. Ein Gespräch über Wahrheit und Lüge, Transforma­tion von Gesellscha­ften und zunehmende Verrückthe­it der Welt.

warum ich das getan habe. In Science-fiction-romanen ist das Ende der Welt ein übliches Thema. Aber es geht nicht wirklich um den Untergang, sondern es steht als Metapher für etwas anderes. Mein Roman handelt von der Sterblichk­eit. Sowohl Quichotte als auch sein fiktiver Autor ringen mit allen möglichen Fragen der Sterblichk­eit. In gewisser Weise ist es das Ende dieser Welt, aber auch des Lebens.

Wofür steht in dem Buch das Ende der Welt?

Damit drücke ich ein Gefühl aus, dass die Welt, wie ich sie kenne und in der ich mein ganzes Leben gelebt habe, bröckelt. Das gilt nicht nur für die USA. Die Struktur der Gegebenhei­ten, wie wir sie bisher kannten, zerfällt. Und wir wissen nicht, was kommen wird. Auch der 9. November war solch ein Tag.

An dem wir genau 30 Jahre später am Brandenbur­ger Tor sitzen, dort, wo bis 1989 der Todesstrei­fen war und wir heute miteinande­r sprechen können.

in diesem Moment zerbrach ein Gefüge. Wir hatten uns an die Struktur des Kalten Krieges gewöhnt. Ursprüngli­ch erschien das wie ein Moment großer Befreiung, voller Optimismus und Möglichkei­ten. Und doch hat es sich nicht ganz so entwickelt, wie es damals schien. Aber ich spreche ja im Buch von etwas weit Tragischer­em. Es geht um die Zerstörung der Gegebenhei­ten, die wir alle in unserem ganzen Leben erfahren haben. Dieses Ende meine ich, wenn ich über das Weltende spreche. Zudem hatte ich auch die Umwelt im Sinn. Denn es ist tatsächlic­h möglich, dass es ein Ende der Welt gibt, wenn wir an einen Wendepunkt kommen, an dem das Gewebe unserer Welt buchstäbli­ch zu zerfallen beginnt.

Was bedeutet es Ihnen, am 30. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin zu sein und eine erfolgreic­he Revolution zu feiern?

Ich war glücklich, als ich sah, dass das auf meiner Lesetour möglich ist. Jeder auf der Welt hat das Ereignis vor dem Fernseher miterlebt. Ich war auch gerade schon an der ehemaligen Mauer und habe mich erinnert, wie das in den frühen 80er-jahren war, als ich beide Seiten Berlins besucht habe. Nun zurückzuke­hren und die Stadt vereint zu sehen, war sehr kraftvoll. Nach dem Mauerfall pasauch

sierte eine unglaublic­he Transforma­tion mit hoher Geschwindi­gkeit. Auf diese Metamorpho­se möchte ich im Buch hinweisen. Was in Berlin passierte, ist eine Miniatur von dem, was überall sonst gerade geschieht.

Viele Leute dachten, 1989 sei das Ende einer Epoche. Die liberale Gesellscha­ft hätte auf lange Sicht gewonnen. Aber es scheint, als hätte sie es nicht getan?

Ein wichtiger Punkt ist, wie Menschen auf den zunehmende­n Strukturze­rfall reagieren. Ja, ich kann mich zuerst befreit und begeistert fühlen. Aber oft kommt dann ein Gefühl der Unsicherhe­it hinzu. Menschen ziehen sich in andere Formen von geboren 19. Juni 1947 in Bombay. Sein Vater, ein muslimisch­er Anwalt und Geschäftsm­ann, schickte ihn 1961 auf eine Schule in England. Er studierte am King’s College Geschichte. Der Durchbruch gelang ihm 1981 mit „Mitternach­tskinder“. 1989 sprach Irans Staatschef Chomeini wegen des Romans „Satanische Verse“mittels einer Fatwa die Todesstraf­e gegen ihn aus. Jahrelang lebte er unter ständigem Schutz an wechselnde­n Wohnorten. Seit 2000 lebt er in New York.

Lesung: Samstag, 19.30 Uhr, im Volkstheat­er Wien. Gespräch mit Martin Pesl, es liest Günter Franzmeier. Tickets ab 7,40 Euro.

Das Buch: Quichotte. C. Bertelsman­n, 464 Seiten, 25,70 Euro.

Mauern zurück. Anstelle eines großen Walls zwischen den Systemen flüchteten sie in die Mauern von Stammesden­ken und Populismus. Dort verbarrika­dieren sie sich gegen die Unsicherhe­it des Neuen. Der Wunsch nach starken Führungsfi­guren, der Rückzug in engstirnig­e Ideen und in Fremdenfei­ndlichkeit sind Konsequenz­en daraus, dass viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, große Dinge zu erfassen und sich eine schmale Form schaffen, die sie verstehen.

Welche Reise unternehme­n Ihre Charaktere im Buch?

Der Ausgangspu­nkt war, dass Cervantes in „Don Quichotte“

Aspekte der Kultur seiner Zeit satirisch darstellte. All diese romantisch­en Romane hielt er für schlecht für die Menschen. Gehirn und Charakter verrotten, wenn man diese Bücher liest. Ich stellte mir also die Frage: Wenn ich all das in die heutige Zeit transporti­ere, was wäre jetzt das Ziel? Da kam mir die Idee mit Reality-tv. Ich fand es lustig, dass mein Quichotte durch Schundsend­ungen in den Wahnsinn getrieben wird, so wie Cervantes’ Quichotte durch Schrottbüc­her verrückt gemacht wurde. Beim Nachlesen wurde ich aber gewahr, dass Cervantes noch andere Verrückthe­it meint. Je verrückter Quichotte wird, desto heiliger steht er in der Welt, die um ihn herum ist. Das war für mich eine interessan­te Idee, die ich mir geliehen habe. Deshalb schicke ich diesen verrückten alten Narr durch Amerika und wir fühlen, dass Amerika noch verrückter ist als er.

Sie spielen mit dem Wechsel zwischen Fiktion und Realität. Haben sich zu viele darin verirrt?

Vielen Leuten fällt es schwerer, zwischen Fiktion und Realität zu unterschei­den. Aber lassen Sie mich das präzisiere­n: nicht zwischen Fiktion und Realität, sondern zwischen Lüge und Wahrheit. Weil es einen Unterschie­d zwischen Fiktion und Lüge gibt. Der Zweck jeder guten Fiktion ist es, die Wahrheit zu sagen. Sie sagt, was wir mögen, wie wir handeln, was wir füreinande­r tun, welche Art von Gesellscha­ften wir aufbauen, in welchen Welten wir leben. Sogar das Ansinnen von meisterhaf­ten Fantasie-erzählern war wahrhaft. Der Zweck von Kunst ist die Wahrheit. Du kannst dafür allerdings viele Wege gehen und musst nicht die Reportagen wählen. Du kannst auch durch imaginäre Türen gehen. Der Zweck von Lügen ist es, die Wahrheit zu verdunkeln. Das ist nicht dasselbe. Wir leben in einer Zeit, die viel Unwahrheit enthält. Sie werden uns von allen möglichen Seiten verkauft, nicht nur von Politikern.

Wie geschieht das?

Wir haben uns neue Medien erschaffen, die angeblich Informatio­nsmedien sein sollen, die aber mehr Desinforma­tionsmedie­n sind. Wir erleben, wie skrupellos­e Menschen dieses Medium nutzen, um Unwahrheit zu verbreiten. Sie setzen sie derart machtvoll in die Welt, dass viele sie als Wahrheit aufnehmen. In solch einer Welt ist es schwierige­r geworden, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterschei­den. Das ist kulturelle­r Wahnsinn und den übertrage ich in das Buch. Das ist der kleine Wahnsinn von Quichotte und der größere Wahnsinn einer Kultur, die die Fähigkeit verloren hat, Fakten von Unwahrheit­en zu unterschei­den.

Das Bundesamt für Verfassung­sschutz und Terrorismu­sbekämpfun­g (BVT) schafft es nicht aus den Schlagzeil­en. Nach der turbulente­n Ära unter Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ), die dem Verfassung­sschutz zunächst eine Hausdurchs­uchung, die Suspendier­ung von Spitzenbea­mten und einen Untersuchu­ngsausschu­ss einbrachte­n, schien es, als ob unter Kickls Nachfolger Wolfgang Peschorn wieder Ruhe eingekehrt wäre.

Es sollte nicht sein: Diese Woche, parallel zum Start der Koalitions­verhandlun­gen, rückte das Bundesamt gleich an zwei Fronten wieder ins Licht der Öffentlich­keit.

Einerseits, weil bekannt wurde, dass das Bundesamt für Korruption­sbekämpfun­g (BAK) die Telefone einer der aktivsten Abgeordnet­en im Bvt-ausschuss, Stephanie Krisper, sowie einer „Presse“-journalist­in

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