Die ganze Breite der Popmusik
Die Stars 2019 sind verhaltensoriginell, voll Selbstbewusstsein und so divers wie nie zuvor.
Da ist es also endlich, dieses viel beschworene Ding namens „Vielfalt“, unter noch moderneren Menschen auch gern als „Diversity“bezeichnet. Jahrelang wurde über Diversität ja hauptsächlich dann gesprochen, wenn es ihren Mangel oder häufig genug auch ihr vollständiges Fehlen zu beanstanden gab: Immer war nicht nur irgendeine Partei oder irgendein Vorstand zu weiß, zu männlich und meistens auch zu alt, sondern eben auch eine Oscar-vergabe, eine Grammyverleihung, die Charts oder gleich die ganze Unterhaltungsindustrie als solche. Doch damit ist es jetzt vorbei. Im Jahr 2019, in dem der Männlichkeit gern das fiese Wort „toxisch“vorangestellt wird, ist die Entgiftung so richtig auf Touren gekommen. Die Männer, die von diesem Pop-jahr in Erinnerung bleiben werden, sind über jeden Verdacht erhaben. Aber den stärkeren Aufschlag hatten ohnehin die Frauen.
Über Billie Eilish (18) aus Kalifornien wussten vor einem Jahr nur Fachleute Bescheid. Jetzt ist das Mädchen mit der flüsterhaften Gänsehautstimme, den bunten Haaren, den klobigen, freilich gern von Designern wie Prada, Louis Vuit
ton oder Gucci entworfenen Kleidungsstücken und diesen fast furchterregend intensiven Songs wie „Bad Guy“einer der populärsten Teenager der Welt. Dave Grohl fühlt sich bei der Lieblingssängerin seiner Töchter sogar an „Nirvana im Jahr 1991“erinnert. Revolutionäre Güteklasse also. Sechs Grammy-nominierungen sind die Quittung, und Eilish hat das alles, so sagt sie, „null, null, null“kommen sehen.
Während Billie Eilish ihren Körper unter Baggy-klamotten versteckt, gehören die weiblichen Kurven, die sich auf 140 Kilogramm Loud-and-proudlebendgewicht addieren, bei Lizzo ausdrücklich mit zum Gesamtpaket. So postete die 31Jährige, die bürgerlich Melissa Jefferson heißt und mit acht Grammy-nominierungen sogar zwei mehr hat als Eilish, vor Kurzem ein Foto ihres Hinterteils auf Instagram, mit der Botschaft, dass man ebendieses doch küssen möge, wenn einem der Anblick nicht passe. Lizzo ist nicht nur eine Stil-ikone (Versace! Valentino!), sondern gleich auch das künstlerische Poster-girl der sogenannten „Body Positivity“-bewegung, deren Kernaussage lautet: Jeder Körper ist schön. „Ich bin auf einer Mission“, stellt Lizzo denn auch klar: „Ich bin dick, schwarz und eine Frau. Und ich bin stolz darauf.“Selbstakzeptanz und Selbstliebe sollten selbstverständlich sein, so Lizzo.
Dem eigenen Körper vollkommen gleichgültig gegenüber steht Lewis Capaldi. Wegen seines Aussehens, da liegen die Dinge ähnlich wie bei seinem Kollegen Ed Sheeran, ist der 23 Jahre alte Schotte aus Glasgow sicher nicht so erfolgreich geworden. Capaldi geniert sich nicht, Journalisten auch einmal im Schlafanzug zu empfangen, seine Witze, mit denen er auf und neben der Bühne nicht geizt, zünden auch nicht immer, aber mit dieser einen Ballade über seine Ex-freundin, mit der geht Capaldi in die Geschichtsbücher ein. „Someone You Loved“, dieses traurig-wohlige Liebeskummerklagelied von seinem ersten Album „Divinely Uninspired to a Hellish Extent“ist quasi der kleine Bruder von Adeles Trauerballade „Someone Like You“. Der Song fließt in die Ohren wie Sirup, man kriegt ihn auch durch Waschen nicht mehr raus, irgendwann fängt er auch an zu nerven, aber schön ist er trotzdem.
Ein Witz, aber ein guter, war und ist der Rapper Lil Nas X, der in seinem Superhit „Old Town Road“schamlos Hip-hop, Country und Pop vermengt. Erst 20 Jahre alt, schwarz und schwul: So einen kann man gar nicht erfinden. Seine so einzigwie eigenartige Nummer, bei der auch Mileys Countrysängervater Billy Ray Cyrus mitmacht, war auf Platz eins in wirklich allen großen Ländern der westlichen Welt, in Deutschland wurde „Old Town Road“gar offiziell zum „Hit des Jahres“gekürt.
Was bleibt sonst hängen? Sarah Connor wirbelte mit dem fetzigen Coming-out-song „Vincent“rückschrittlichen Staub auf. Madonnas „Madame X“album war besser als sein nach dem verkorksten Esc-auftritt ramponierter Ruf. Taylor Swift hat sich mit ihrem Liebesalbum „Lover“gefangen. Der aus Südkorea kommende, ultrazuckrige, überperfektionierte (und leider auch in einigen Fällen zu seelischen Schäden bis hin zum Suizid mancher Protagonisten führende) K-pop hat sich mit Bands wie BTS (Jungs) oder Blackpink (Mädchen) auch bei uns im Mainstream verankert, einige „Alteweissemänner“stellten nochmals etwas Neues auf die Beine (Tool, The Who). Und von Helene Fischer war (bis auf ein schlaffes Weihnachtslied mit Robbie Williams) nichts zu hören. Danke 2019.