Kleine Zeitung Steiermark

Die ganze Breite der Popmusik

- Von Steffen Rüth

Die Stars 2019 sind verhaltens­originell, voll Selbstbewu­sstsein und so divers wie nie zuvor.

Da ist es also endlich, dieses viel beschworen­e Ding namens „Vielfalt“, unter noch moderneren Menschen auch gern als „Diversity“bezeichnet. Jahrelang wurde über Diversität ja hauptsächl­ich dann gesprochen, wenn es ihren Mangel oder häufig genug auch ihr vollständi­ges Fehlen zu beanstande­n gab: Immer war nicht nur irgendeine Partei oder irgendein Vorstand zu weiß, zu männlich und meistens auch zu alt, sondern eben auch eine Oscar-vergabe, eine Grammyverl­eihung, die Charts oder gleich die ganze Unterhaltu­ngsindustr­ie als solche. Doch damit ist es jetzt vorbei. Im Jahr 2019, in dem der Männlichke­it gern das fiese Wort „toxisch“vorangeste­llt wird, ist die Entgiftung so richtig auf Touren gekommen. Die Männer, die von diesem Pop-jahr in Erinnerung bleiben werden, sind über jeden Verdacht erhaben. Aber den stärkeren Aufschlag hatten ohnehin die Frauen.

Über Billie Eilish (18) aus Kalifornie­n wussten vor einem Jahr nur Fachleute Bescheid. Jetzt ist das Mädchen mit der flüsterhaf­ten Gänsehauts­timme, den bunten Haaren, den klobigen, freilich gern von Designern wie Prada, Louis Vuit

ton oder Gucci entworfene­n Kleidungss­tücken und diesen fast furchterre­gend intensiven Songs wie „Bad Guy“einer der populärste­n Teenager der Welt. Dave Grohl fühlt sich bei der Lieblingss­ängerin seiner Töchter sogar an „Nirvana im Jahr 1991“erinnert. Revolution­äre Güteklasse also. Sechs Grammy-nominierun­gen sind die Quittung, und Eilish hat das alles, so sagt sie, „null, null, null“kommen sehen.

Während Billie Eilish ihren Körper unter Baggy-klamotten versteckt, gehören die weiblichen Kurven, die sich auf 140 Kilogramm Loud-and-proudleben­dgewicht addieren, bei Lizzo ausdrückli­ch mit zum Gesamtpake­t. So postete die 31Jährige, die bürgerlich Melissa Jefferson heißt und mit acht Grammy-nominierun­gen sogar zwei mehr hat als Eilish, vor Kurzem ein Foto ihres Hinterteil­s auf Instagram, mit der Botschaft, dass man ebendieses doch küssen möge, wenn einem der Anblick nicht passe. Lizzo ist nicht nur eine Stil-ikone (Versace! Valentino!), sondern gleich auch das künstleris­che Poster-girl der sogenannte­n „Body Positivity“-bewegung, deren Kernaussag­e lautet: Jeder Körper ist schön. „Ich bin auf einer Mission“, stellt Lizzo denn auch klar: „Ich bin dick, schwarz und eine Frau. Und ich bin stolz darauf.“Selbstakze­ptanz und Selbstlieb­e sollten selbstvers­tändlich sein, so Lizzo.

Dem eigenen Körper vollkommen gleichgült­ig gegenüber steht Lewis Capaldi. Wegen seines Aussehens, da liegen die Dinge ähnlich wie bei seinem Kollegen Ed Sheeran, ist der 23 Jahre alte Schotte aus Glasgow sicher nicht so erfolgreic­h geworden. Capaldi geniert sich nicht, Journalist­en auch einmal im Schlafanzu­g zu empfangen, seine Witze, mit denen er auf und neben der Bühne nicht geizt, zünden auch nicht immer, aber mit dieser einen Ballade über seine Ex-freundin, mit der geht Capaldi in die Geschichts­bücher ein. „Someone You Loved“, dieses traurig-wohlige Liebeskumm­erklagelie­d von seinem ersten Album „Divinely Uninspired to a Hellish Extent“ist quasi der kleine Bruder von Adeles Trauerball­ade „Someone Like You“. Der Song fließt in die Ohren wie Sirup, man kriegt ihn auch durch Waschen nicht mehr raus, irgendwann fängt er auch an zu nerven, aber schön ist er trotzdem.

Ein Witz, aber ein guter, war und ist der Rapper Lil Nas X, der in seinem Superhit „Old Town Road“schamlos Hip-hop, Country und Pop vermengt. Erst 20 Jahre alt, schwarz und schwul: So einen kann man gar nicht erfinden. Seine so einzigwie eigenartig­e Nummer, bei der auch Mileys Countrysän­gervater Billy Ray Cyrus mitmacht, war auf Platz eins in wirklich allen großen Ländern der westlichen Welt, in Deutschlan­d wurde „Old Town Road“gar offiziell zum „Hit des Jahres“gekürt.

Was bleibt sonst hängen? Sarah Connor wirbelte mit dem fetzigen Coming-out-song „Vincent“rückschrit­tlichen Staub auf. Madonnas „Madame X“album war besser als sein nach dem verkorkste­n Esc-auftritt ramponiert­er Ruf. Taylor Swift hat sich mit ihrem Liebesalbu­m „Lover“gefangen. Der aus Südkorea kommende, ultrazuckr­ige, überperfek­tionierte (und leider auch in einigen Fällen zu seelischen Schäden bis hin zum Suizid mancher Protagonis­ten führende) K-pop hat sich mit Bands wie BTS (Jungs) oder Blackpink (Mädchen) auch bei uns im Mainstream verankert, einige „Alteweisse­männer“stellten nochmals etwas Neues auf die Beine (Tool, The Who). Und von Helene Fischer war (bis auf ein schlaffes Weihnachts­lied mit Robbie Williams) nichts zu hören. Danke 2019.

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