Kleine Zeitung Steiermark

„Der Wunsch, zu gefallen, hat kein Ablaufdatu­m“

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DIn kurzen Szenen protokolli­ert Katja Jungwirth, wie Alter und Krankheit nicht nur ihre Mutter, sondern das Leben der ganzen Familie betreffen und wie der

Alltag sich verändert. Lesen Sie hier Auszüge aus

ihrem Buch.

a sitzt ein großer, schwarzer Vogel auf den Schultern meiner Mutter und verdeckt mit schweren, dunklen Flügeln jede Realität. Sie liegt im Bett, mag nicht aufstehen, mag nicht essen, mag nicht leben. Aber da ist noch ein Funken schlechten Gewissens in ihr und ich ahne es längst: Sie hat, wieder einmal, ihr Psychophar­makon selbststän­dig abgesetzt. (…)

Da liegt ein kleiner, hilfloser Mensch im Bett und man steht genauso hilflos davor. „Hast du alle deine Medikament­e genommen?“Die Frage kommt mir schrecklic­h intim vor, fast ungehörig. Dann, mit der Zeit, wird mir klar: Sie durchleide­t die erste Woche mit dem Psychophar­makon, und sobald sich eine geringe Besserung einstellt, setzt sie es ab. Glücklich, ohne die üblichen Nebenwirku­ngen, geht es noch ein paar Tage dahin – bis sich der große, schwarze Vogel wieder festkrallt. Mutter will ein Grab. Sie will in der Stadt begraben werden, in der wir alle leben. Ich fahre mit zweien meiner Kinder zum größten Friedhof. In der Friedwird uns ein Lageplan ausgehändi­gt, auf dem die freien Gräber markiert sind. Wir versuchen, unsere Beklemmung zu ignorieren, und kreisen ungefähr zehn infrage kommende Stellen rot ein. Dann marschiere­n wir los. (…)

Mit dem Rollator fährt es sich zwar schwer am Kies zwischen den Grabreihen, aber wir schaffen es. Rechts hinein, beim Philosophe­n Ludwig Wittgenste­in vorbei ... und ... jö, schau! Da drüben ist der Erwin Ringel, den hat sie immer schon sehr geschätzt. Sie fühlt sich hier sofort wohl.

(…)

„Weißt du“, sagt sie dann in der Friedhofsk­onditorei bei

Kaffee und Tor„dieses Grab ist ideal für mich.“Gut erreichbar, weil es nicht weit vom Eingangsto­r entfernt ist – wo sie doch ohnehin so schlecht zu Fuß sei ...

Sie traut sich mit dem Rollator auf die Straße. Geschickt manövriert sie das Gefährt an den abgeflacht­en Gehsteigka­nten über die Fahrbahn. Sie rast, und ich komme, den alten Hund hinter mir herziehend, kaum hinterher. (…) Leider will sie niemals mehr ein Kaffeehaus betreten. Und ins Kino will sie auch nicht. „Wo soll ich denn das blöde Ding da abstelhofs­verwaltung len?“Das blöde Ding schenkt ihr ganz viel Beweglichk­eit und auch Freiheit, aber sie geniert sich. Die Straße auf und ab, in den Supermarkt, das geht, aber die Orte der vergangene­n Zeit, die Kaffeehäus­er, das Theater, vermeidet sie. Ich versuche es mit Überreden, mit Bitten und Drohen. Aber Mutter ist stur. Ich kann ihre Ängste nicht nachvollzi­ehen und bin überzeugt davon, ein Besuch im Kaffeehaus oder im Kino würde für sie eine schöne Abwechslun­g in ihrem Alltag sein, ja, sie ihrem gewohnten früheren Leben näherbring­en.

Mutter legt Wert auf Äußerlichk­eiten. Bei sich und bei anderen. Das heißt nicht, dass sie oberflächl­ich ist. Aber der erste Eindruck ist wichtig. Da ist sie ganz alte Schule: geputzte Schuhe, guter Haarschnit­t und kein Mantel, der voller Fusseln und Haare ist. Sie geht nie mit dem „Hausgewand“auf die Straße. Auch Mantel und Schuhe müssen zusammenpa­ssen. Sie beobachtet sich genau. „Die Augen werden immer kleiner“, klagt sie und zieht mit imte,

mer noch geübter Hand einen Lidstrich. „Und im Alter verschwind­et die Unterlippe irgendwie im Mund und die Mundwinkel hängen. Schau dir einmal die alten Frauen auf der Straße an. Die wirken alle grantig oder traurig. Dabei sind es oft nur diese hängenden Mundwinkel.“Sie versucht, bewusst gegenzuste­uern, geht auf der Straße mit erhobenem Kopf und lächelt ... „Na, mehr hab ich nicht gebraucht“, schimpft sie dann. „Jetzt halten mich alle für die ständig blöd grinsende Alte von Tür elf, die sicher nicht ganz richtig im Kopf ist.“

So mancher mag sich jetzt denken: Na, wenn man kaum mehr Luft bekommt und unerträgli­che Schmerzen hat, sind hängende Mundwinkel das allerklein­ste Problem. Das ist ja klar, aber darum geht es auch nicht. (...) Es geht um die Anerkennun­g des Alters, um die Schönheit im Alter, um die Würde und den Wunsch vieler alter Menschen, wahrgenomm­en, angeschaut, angelächel­t zu werden. Und der Wunsch, zu gefallen, hat ja kein Ablaufdatu­m.

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