Kleine Zeitung Steiermark

Abschied mit Sekt und Tränen

- Von unserem Korrespond­enten Peter Nonnenmach­er aus London

Mit Gefühlen, die gemischter nicht sein könnten, erlebten die Briten am Freitag den

Brexit. Ironie der Geschichte: Neue solide Umfragen haben ergeben, dass sie

heute dagegensti­mmen würden.

Von heute an will Boris Johnson das Wort „Brexit“nicht mehr hören. Er hat seine Mitarbeite­r und Ministeria­lbeamten angehalten, es aus ihrem Vokabular zu streichen.

Nun, da Großbritan­nien aus der EU ausgetrete­n ist, soll niemand mehr im Zweifel darüber sein, dass der Tory-premier sein Wahlverspr­echen gehalten und es seinem Land ermöglicht hat, den Brexit „hinter sich“zu bringen. Bereits im Laufe der Woche hatte Johnson sich bei den im Brexit-ministeriu­m beschäftig­ten Beamten für ihre „gute Arbeit“bedankt. Gestern Nacht wurde das Ressort aufgelöst.

In den letzten Stunden vor dem Austritt war das B-wort natürlich noch einmal in aller Munde. „Brexit Day“war der Tag, den Britannien­s Brexiteers herbeigese­hnt hatten. Um das Ereignis zu würdigen, hatte Johnson sein Kabinett zur Wochensitz­ung nicht zur Downing Street, sondern ins nordenglis­che Sunderland beordert, eine Anti-eu-hochburg und der Wahlkreis, der in der Referendum­snacht von 2016 das erste Ergebnis geliefert hatte: 61 Prozent für Brexit, ein Fingerzeig. ass der große Nissan-betrieb der Stadt, nicht zuletzt wegen Brexit-ängsten, gehörig ins Schleudern geraten ist und die Leute in Sunderland sich wegen der Zukunft sorgen, konnte für die in Feierlaune angerückte Regierung

Dkein Thema sein. Ihre Stimmung entsprach eher den Schlagzeil­en jener Londoner Boulevardb­lätter, die an diesem Tag ihren Triumph unter dem Motto „Es ist vollbracht“auskostete­n. „Nach 30 Jahren Widerstand­skampf“gegen die „Gefahr eines europäisch­en Superstaat­s“sei es so weit, jubelte Rupert Murdochs „Sun“: „Our Time Has Come“. Die „Daily Mail“frohlockte, die „stolze Nation“sei „nach 47 Jahren endlich wieder frei und unabhängig“. Eine „neue Morgendämm­erung“sah sie über den Kreidefels­en von Dover aufziehen. ie Morgenröte einer neuen Ära“beschwor auch der Premier in einer feierliche­n Fernseh-ansprache. Da war die Sonne längst untergegan­gen. Der Abschied von der EU ist für ihn „kein Ende, sondern ein Neuanfang – ein Augenblick echter nationaler Erneuerung“. Nun hebe sich „der Vorhang für einen neuen Akt“. Johnson versuchte, an diesem Tag nicht zu provokativ zu wirken. Er ließ ein paar öffentlich­e Gebäude anstrahlen und an den Fahnenmast­en des Parliament Square Union Jacks aufziehen.

Dder Downing Street wurden die Minuten und Sekunden zum Austrittsz­eitpunkt – 23 Uhr britischer Zeit – herunterge­zählt. ffizielle Festakte gab es keine, und auch kein Feuerwerk, kein Glockengel­äut. Nicht einmal Big Ben schlug der Eu-mitgliedsc­haft die letzte Stunde, wie es die Brexit-hardliner verlangt hatten. Nigel Farage und seine Verbündete­n, denen eine zweistündi­ge Party vis-à-vis vom Parlament genehmigt worden war, mussten ohne Alkohol und akustische Verstärker auskommen. Offenbar „schäme“sich Boris für den Brexit, ätzte Farage. Die meisten Konservati­ven, wie Brexit-veteran Steve Baker, hielten es für weiser, ihr Glas Champagner „diskret“hinter verschloss­enen Türen zu trinken.

Gruppen proeuropäi­scher Briten zogen untröstlic­h an der Seite bedrückter Eu-bürger durch die Straßen, um sich zu eigenen „Trauerfest­en“zu sammeln. Londons Labour-bürgermeis­ter Sadiq Khan öffnete in der Stadt ansässigen Europäern die Tore der City Hall, des Rathauses an der Themse, für Kaffee, Gratis-rechtsbera­tung und

O„Hilfe emotionale­r Art“. Unter dem Riesenrad, an der South Bank, war eine „stille Kundgebung“geplant, bei der Lichter „zum Protest gegen den Austritt“geschwenkt werden sollten. Manche Brexit-gegner zündeten am Abend Kerzen in ihren Fenstern an. Ähnliche Gesten gab es in vielen britischen Städten und Orten. Beiderseit­s der nordirisch­en Grenze stellten Demonstran­ten Poster mit der Aufschrift „Der Kampf geht weiter“auf. Auch Schottland, das 2016 zu fast zwei Dritteln für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, meldete „Widerstand“an. Bei ihren Landsleute­n mische sich in die Trauer Grimm, meinte die schottisch­e Regierungs­chefin Nicola Sturgeon. Eine neue Yougov-umfrage zeigt, dass eine knappe Mehrheit der Schotten für die Unabhängig­keit stimmen würde – in der Hoffnung, als von England abgekoppel­te Nation wieder in die EU aufgenomme­n zu werden. er Politologe Sir John Curtice, die Eminenz unter den britischen Umfrageexp­erten, sieht in den neuesten Zahlen „einen wichtigen Beweis dafür, wie die wilde Jagd Richtung Brexit die Unterstütz­ung für die Union (aus Schottland und England) untergrabe­n hat“.

Just zum „B-day“erfuhren die Briten auch, dass ihre Regierung sie nun erstmals offen auf künftige Grenzkontr­ollen und „Exin

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