Eine weltweite Welle der Solidarität
In zahlreichen Ländern kam es zu Protesten gegen Rassismus. Minneapolis und Kalifornien verbieten Würgegriff bei Polizeieinsätzen.
Es ist eine beeindruckende Welle der Solidarität, die den ganzen Globus erfasst hat: Trotz Corona-pandemie haben erneut weltweit zahlreiche Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert. In Australien gingen landesweit Zehntausende auf die Straßen, obwohl die Regierung wegen einer möglichen Coronavirus-ansteckungsgefahr davon abgeraten hatte. Auch in Großbritannien kamen Tausende Demonstranten zusammen.
„Es ist an der Zeit, den institutionellen Rassismus niederzubrennen“, verkündete eine Demonstrantin mit einem Megafon vor den Tausenden Menschen, die sich vor dem Londoner Parlamentsgebäude versammelt hatten. Zugleich forderte sie alle auf, einen Mundschutz zu tragen. „So bleiben wir am Leben.“
In Österreich fanden Proteste in Graz, Klagenfurt und Innsbruck statt. In Wien nahmen bereits am Donnerstag rund
50.000 Menschen an einem Protest unter dem Motto „Black Lives Matter“(Schwarze Leben zählen) teil.
Im Irak wurde der Satz „Ich kann nicht atmen“in den sozialen Netzwerken geteilt. In Thailand riefen Aktivisten wegen der Corona-einschränkungen in Bangkok dazu auf, online Videos und Fotos hochzuladen, auf denen schwarz gekleidete Menschen ihre Faust in die Höhe recken und auf Schildern erklären, warum sie „vereint hinter Black Lives Matter stehen“.
Zugleich scheinen die Proteste auch erste Veränderungen zu bewirken: In Minneapolis dürften Beamte künftig keine Würgegriffe mehr anwenden und Verdächtige nicht am Nacken festhalten, wie Bürgermeister Jacob Frey erklärte. Zudem müssten alle Polizeibeamte, die Zeugen einer „ungenehmigten Gewaltanwendung“ihrer Kollegen würden, dies unter Strafandrohung melden. Sie seien verpflichtet, in solchen Fällen einzuschreiten, andernfalls drohten ihnen die gleichen disziplinarischen Konsequenzen wie dem Täter. Auch in Kalifornien soll ein Würgegriff, bei dem die Blutzufuhr zum Gehirn unterbunden wird, künftig verboten werden.
Paris, London, Tokio: Zeichen gegen Rassismus
In Frankreich verboten die Behörden mehrere für Samstag angekündigte Demonstrationen gegen Polizeigewalt in Paris unter Verweis auf das Infektionsschutzgesetz. Wegen der Corona-pandemie wurden alle Demonstrationen mit mehr als zehn Personen laut Polizei untersagt. Dennoch versammelten sich in Paris etwa tausend Menschen vor der Us-botschaft. In Paris hatten bereits am Dienstag Tausende Menschen gegen den Tod des Schwarzen Adama Traoré in einer Pariser Vorstadt 2016 demonstriert. Auch er war wie Floyd in Polizeigewahrsam am Boden fixiert worden.
Auch in Washington begannen erneut Großdemonstrationen, an denen unter anderem auch Yolanda Renee King, die
HVon Stefan Winkler
err Rumiz, nach zweimonatigem Stillstand erwacht Italien wieder zu Leben. Wie erleben Sie diesen Moment?
PAOLO RUMIZ: Ich hatte gehofft, dass es ein glücklicher Augenblick wäre. Aber das ist es nicht. Ein großer Teil meiner Landsleute hat die Lehre nicht begriffen, die wir aus der Pandemie ziehen sollten. Alle können es nicht erwarten, zu ihrem früheren Leben zurückzukehren. Ich dagegen habe davon geträumt, dass ein anderes Leben beginnt.
Haben Sie wirklich geglaubt, dass die Welt sich ändern würde?
Nein, aber ich habe gedacht, die Welt würde in den zwei Monaten die Zeit finden, über eine Zukunft nachzudenken, die genügsamer, grüner und demokratischer ist. Wenn ein Unglück über sie kommt, ändern Menschen sich oft. Sie bessern sich, und sei es aus Angst. Aber offenbar war die Tragödie nicht groß genug. Im Grunde sind wir wie das Virus, das seinen Wirt tötet und damit selber stirbt. Obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, dass wir nicht so weitermachen dürfen, da das Ende
von Mutter Erde auch unser eigenes Ende wäre, setzen wir unser Zerstörungswerk selbst jetzt nach der Seuche fort. Als ich das erkannt habe, bin ich nach Venedig auf die Isola di San Giorgio in ein Kloster geflüchtet. Ich habe im Garten gearbeitet, für die Mönche gekocht, bin spazieren gegangen, habe gelesen, gebetet und mich nach der Quarantäne zurückgesehnt. Ich brauchte eine Verlängerung. Das ist absurd, aber die ganze Welt kam mir absurd vor.
Wie haben Sie die vergangenen zwei Monate verbracht?
Zu Hause. Jedes Mal, wenn ich hinausmusste, hatte ich das Gefühl, in einer Komödie zu sein. Überall nur Maskierte – eine Beleidigung des Bürgersinns. Was man mit Verboten erzielen wollte, hätte man wohl auch mit einem großen Appell an die Bevölkerung erreichen können. Aber leider gibt es in Italien großes Misstrauen gegenüber dem Staat, und der Staat misstraut seinen Bürgern. Irgendwann bin ich nur mehr ungern hinaus. So verrückt es klingt: Ich habe mich daheim viel freier gefühlt.
Sie sind ein Nomade. Hat Sie nicht die Klaustrophobie gepackt?
Ich habe nie zuvor in meinem Leben das Haus einen Monat lang nicht verlassen, war immer unterwegs. Doch Sie können sich nicht vorstellen, wie viel ich in diesen Wochen gereist bin. Ich war im Geist an mehr Orten und habe mehr Dinge entdeckt als auf jeder Reise, die ich jemals unternommen habe.
Die Tiefe. Die horizontale Begrenztheit des Raums zwingt einen dazu, die Vertikale auszuloten. Man versenkt sich in sich selbst und erklimmt zugleich gedanklich lichte Höhen. Die Klausur ist aber auch ein Spiegel, der einem gnadenlos vorgehalten wird. Das Zusammenleben auf engem Raum kann sehr mühsam ein. Wir leben in einer Welt, die uns einredet, es genüge, eine Sache zu begehren, um sie zu bekommen. Die eigenen Schwächen und Grenzen zu akzeptieren, war die wichtigste Lektion für mich. Ich habe aber auch ganz neue Kontinente außerhalb von mir entdeckt.
Paolo Rumiz hat die Klausur der vergangenen Monate als auf paradoxe
Weise befreiend und seine Heimatstadt Triest als Seismografen globaler Erschütterungen erlebt. Hier erzählt der Schriftsteller
von seiner Reise zu neuen Kontinenten.
Welche denn?
Der schönste war das Dach meines Hauses in Triest. Man blickt auf drei Seiten auf das Meer. Ich
um fünf Uhr in der Früh den Sonnenaufgang bestaunt, den Flug der Zugvögel verfolgt, habe gelesen, geschlafen, philosophiert, Sterne geschaut und stundenlang die Dolomiten betrachtet, die durch die saubere Luft plötzlich nahe waren. Man konnte sogar die Drei Zinnen sehen. Und dann dieser Aprilhimmel! Er war so blau wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Eine wunderbare Stille herrschte, man konnte den Wind, den Gesang der Vögel und das Tosen des Meeres hören, die Stimmen der Kinder und das Klirren des Geschirrs in den Wohnungen. 1947 in Triest geboren, begann Rumiz als Journalist bei „Il Piccolo“, wechselte zur „La Repubblica“. Er schrieb über den Zerfall Jugoslawiens, befuhr den Po mit einem Schiff, überquerte auf den Spuren Hannibals die Alpen und wanderte über die Via Appia. Zuletzt erschien „Der unendliche Faden“, eine Reise zu Europas benediktinischen Wurzeln.
Was für ein Land finden Sie vor, jetzt, da das alles zu Ende ist?
Es ist ein müderes und ärmeres Italien, in dem die Last der Krise wieder einmal den Jungen aufgebürdet wird. Das war schon in der Finanzkrise so. Jetzt gibt es mit dem Virus einen weiteren Grund, um der jungen Generation die Arbeit vorzuenthalten. Es sind aber genau die mutigen Jungen, die Italien bräuchte, um aus der Krise zu finden.
Italien fällt nicht so leicht. Im Unterschied zu Griechenland verfügt das Land über große private Vermögen. Um die Staatshabe schulden abzubauen, würde es genügen, dass jeder Bürger ein Viertel seiner Ersparnisse hergibt. Das weiß die Finanzwelt. Und dann hat Italien außergewöhnliche Energien. Die Italiener stehen in Krisenzeiten zusammen. Aber das wahre Drama ist eine unwürdige Bürokratie, sind die Steuerhinterziehung, der Bürgerkrieg zwischen Ehrlichen und Unehrlichen. Und wir haben noch nie eine politische Klasse auf so tiefem Niveau gehabt. Der Großteil unserer Politiker wird von den Signori, den Herren der fossilen, nicht erneuerbaren Energien, gesteuert und erschöpft sich ganz in der Bewirtschaftung von Ängsten.
Woran denken Sie?
Durchaus an das Virus, das in Italien längst zum Faktor der Polemik, der Verwirrung und medialen Panikmache geworden ist. Die Leute sind verängstigt. Viele sind bereit, in der Krise auf demokratische Rechte zu verzichten. Die Seuche macht die Utopie einer Welt real, in der alles kontrolliert und nachverfolgt wird. Der Alarmismus ist das Werkzeug der Technokraten, die auf diese Realität drängen. Zum ersten Mal ist die Welt aus Panik stillgestanden. Aus Angst vorm Tod haben die Leute es akzeptiert, täglich zu sterben, indem sie aufs Leben verzichteten.
Doch. Am meisten fürchte ich mich vor einer Welt, die von Algorithmen und nicht mehr von Menschen regiert wird. Die Epidemie jagt mir weniger Schrecken ein. Erst hat man sie ignoriert, dann auf skandalöse Weise aufgeblasen. In den großen Seniorenheimen in der Lombardei, wo die Alten wie in Lagern zusammengepfercht leben, hat man, um niemanden zu verschrecken, wochenlang auf Masken und Schutzausrüstungen verzichtet. Das erst hat dort zur Katastrophe geführt. Und nun fiebert alle Welt einem
Impfstoff entgegen, so als wäre es der Heilige Gral. Dabei gibt es eine alte Kultur der Quarantäne. Einen Steinwurf von mir liegt die Via del Lazzaretto Vecchio, in der Maria Theresia ein Lazarett erbauen ließ. Schon im 18. Jahrhundert wusste man, dass in einer globalisierten Welt die Krankheiten wandern. Aber wir leben heute ohne Erinnerung. Es ist wie mit den Erdbeben. Erst wenn der Apennin bebt, wird Italien bewusst, dass es ein seismisch aktives Land ist. Und so taumeln wir von einem Ausnahmezustand zum anderen.
Ist Triest ein besonders geeigneter Ort, um die Erschütterungen wahrzunehmen, die das Virus auch in Europa ausgelöst hat?
Man hat in Triest das Gefühl, auf einem großen Seismografen zu sitzen, der jede noch so kleine geopolitische Bewegung registriert. Die Schützengräben in den Hügeln des Isonzo, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der Kalte Krieg und jetzt Corona. Es scheint, als würde der Kontinent seit 1915 stets an derselben Stelle zerbrechen, als würde sich die alte Grenze immer wieder neu bilden. Als die Seuche ausbrach, war Görz wieder zweigeteilt wie 1945. Die slowenische Miliz bezog dieselben Posten wie 1991, zu Beginn des jugoslawischen Dramas. Das hat Verwirrung gestiftet. Eigentlich wollten Italiens Souveränisten noch vor Kurzem eine Mauer gegen die Flüchtlinge errichten, ein billiges Imitat des Eisernen Vorhangs, von dem man nicht weiß, wer wen aussperrt. Doch das Virus hat ihre Lügen entlarvt. Am Ende waren es die slowenischen Bauern, die aus Angst vor der Pestilenz sogar die kleinen Übergänge mit Steinen verbarrikadiert haben. Und plötzlich sind es nicht die Migranten, vor denen sich alle Welt fürchtet. Die Fremden, die Afrikaner, die Ausgesperrten, das sind jetzt wir, die Italiener.