Ich bin verletzlich
Es gab Zeiten, da war ich Sturm und Drang. „Was will ich vom Leben?“, fragte ich mich. Ich wollte viel. Heute will ich weniger, dafür bin ich mehr. Ich bin bereit. Ich sage öfter Nein.
Es gab Zeiten, da wollte ich kämpfen. Heute nicht mehr so sehr. „Was will das Leben von mir?“, frage ich mich. Ich will fließen – mit allem, was ich bin, kann und will. Ich bin achtsamer. Ich schaue genauer, höre genauer, spüre genauer.
Das Müssen ist weniger geworden. Das Fragen mehr. Was macht mich aus? Was ist mein Wesenskern? Wo liegt meine Größe? Was sind meine Talente? Was bedeutet für mich Reichtum? Wo spüre ich am meisten Lebendigkeit und Leidenschaft? Was kann und will ich entfalten? Was ist die höchste Version von mir selbst? Worauf und auf wen muss und will ich antworten? Was kann und will ich der Welt geben?
Ich bin verletzlicher geworden. Zu Beginn der Coronazeit haben mich die krisenhaften Verwerfungen sehr beschäftigt. Ich war auf meinen Social-media-kanälen sehr präsent. Ich war bewegt. Ich war besorgt. Ich kam ins Kämpfen. Ein Echo früherer Zeiten stieg hoch. Ich war im Zwiegespräch mit meinem Körper, meinem Geist, meinem Wesenskern: „Muss das jetzt sein? Will ich das?“Ich sagte Ja. Die kritischen Stimmen hatten mir zu Beginn der Krise bitterlich gefehlt. Später standen sie zum Glück wieder auf. Ich halte sie für wichtig. Für essenziell für eine Demokratie. Selbst muss ich jetzt nicht mehr an der Meinungsfront kämpfen. Ich bin befreit.
Der Kampf geht nie ohne Verletzungen vorüber. Wenn ich kämpfe, zeige ich mich. Dies führt auch immer wieder zu einem „vulnerability hangover“, einem Verletzlichkeitskater. Das ist ein Gefühl der Beklemmung, das den Momenten folgt, an denen ich mich voll und ganz öffne. Ich kenne diesen Kater, er bedrängt mich mitunter. Aber irgendwie mag ich ihn auch. Er erinnert mich daran, dass ich lebendig bin.
Und dann gibt es auch jene Verletzungen, die mir andere Menschen vorsätzlich zufügen.
Als ich nach einem abendlichen Tv-auftritt noch auf Twitter unterwegs war, begegnete mir vor einigen Wochen ein „Troll“, der das Foto des aufgebahrten Leichnams meines Vaters in seinem Profilbild hatte. Es fuhr mir durch Haut und Knochen, meinen toten Papa so liegen zu sehen. In seinem Profilnamen nahm er Bezug auf mich und den Leichnam meines Vaters. Ich musste mehrfach hinschauen, um es glauben zu können.
Das Foto hatte dieser Jemand offensichtlich aus einer Orfsendung herausgeschnitten, die ich letztes Jahr zu Allerheiligen zum Thema „Der Tod als Coach des Lebens“gestaltet hatte. „Was will dieser Mensch damit bezwecken? Was will er von mir?“, fragte ich mich. Unter anderem wollte er mich verletzen. Das hat er geschafft. Es hat wehgetan.
Ich bin dorthin gegangen, wo ich gut zur Ruhe komme. Dort umsorge ich meine Wunden, umarme meinen verstorbenen Vater, umarme meinen Twittertroll. Frieden in meinem Geist, Frieden in meinem Herzen, Frieden in meiner Seele.
Die Kolumne von Gottfried Hofmannwellenhof finden Sie auf Seite 13.