Der ideale Stadtteil auf dem Boden der Realität
Goldgräberstimmung kam lange keine auf, jetzt gibt es Ziegel und Beton. Den gepriesenen „idealen Stadtteil“wird es im Westen nicht geben. Doch verspricht Reininghaus uns Urbanität, Hochhäuser und Grün – das ist für Graz nicht wenig.
Reden wir nicht um den Brei herum: Als Ernst Scholdan, Consulter-ikone aus Wien, in unsere Stadt kam, um die Grazer Crème de la Crème beim Galadinner im längst verblichenen Haubenavantgarde-lokal Iohan mit Hopfen-risotto einzukochen, hat er viele beeindruckt. Erstmals seit Jahren sprach in der 2006 noch nicht so rasant wachsenden Provinzmetropole jemand von Stadtteilentwicklung. Die Wiener Grandezza machte dem kleinen Graz Appetit. Den Autor dieser Zeilen aber skeptisch: Man roch die Absicht hinter dem duftenden Menü, das zum Buch „Die Konzeption des Wünschenswerten“gereicht wurde. Voll Eleganz erzählte der 200-Seitenwälzer vom „idealen Stadtteil“, groß wie die Altstadt, der als Neustadt mit Bibliotheken, Schulen und Wissensspeicher bis 2017 in Reininghaus entstanden sein sollte. War es mehr als Reklame, die die Taschen der Wiener Investoren füllen sollte, wenn die Stadt die Acker- und Industriebrache erst einmal als Bauland vergoldet hätte?
Scholdan, der mit Wiener Investoren in einem Megadeal mit der Brau-union/heineken auch dieses Areal abgekauft hatte, wollte es samt seinen Visionen bei einer Roadshow von Cannes bis New York an den Mann bringen. Hochglanz war gestern. Der Werbeprofi wollte mit Foldern auf mattiertem Papier die Reininghaus’sche Goldgräberstimmung entfachen. Widmungen, Investoren, Käufer, Bauherren, Konzerne – alles war so schön geplant.
Doch dann platzte 2008/ 09 in den USA die Immobilienblase, fehlte die Thermik für Luftschlösser. Scholdans Firma Asset One verlor an Grip, mancher Investor die Nerven, 2011 sollte alles samt fertigem Rahmenplan ans Petruswerk verkauft werden, dann die Stadt einspringen. Doch die von Bürgermeister Siegfried Nagl befragten Grazer sagten „Nein!“. ir schreiben 2020. Scholdan sollte den Baubeginn nicht mehr erleben. Baudirektor Bertram Werle und sein Projektleiter für diese Entwicklung in 17 Quartieren, Bernd Schrunner, führen uns durch Rohbau- und Kranalleen. Die Idee Reininghaus lebt und bedeutet die Rückkehr
W150 Millionen Euro
der Hochhäuser nach Graz. Zwischen 60 und 70 Meter werden die Wolkenkratzer im Zentrum in den Himmel ragen. 1500 Wohnungen sind in Bau, bei der künftigen Endstation sind erste Gleise gelegt. 2021 fährt hier die Straßenbahn, 2022 ist der zentrale Park fertig, der sich als grüner Riegel zwischen Hausreihen schiebt. Es soll das Revier der Rad-, der Tramfahrer und Flaneure werden, erzählt Werle: „Jeder Mieter erhält fürs erste Jahr eine Öffi-jahreskarte. Für Autos gibt’s je Quartier eine Sammeltiefgarage.“Die sollen hier nicht den Ton angeben.
Zehn Jahre wird am Stadtteil noch gebaut, schätzt der Baudirektor: „Dann sind bis zu 6000 Wohnungen entstanden, leben hier 10.000 Menschen, sollen 5000 hier arbeiten. Da entsteht eine Bezirksstadt.“Deutschlandsberg, Leibnitz, Weiz spielen in der 11.000-Seelen-liga, Voitsberg, Liezen, Mürzzuschlag sind unter der 10.000ermarke. Ein kleines Team in der Baudirektion achtet darauf, dass die einzelnen Bauherren nicht auf die Kooperation in Quartieren vergessen. Projektleiter Schrunner hat es ihnen oft erklärt: „Und sie haben verstanden, dass alle davon profitieren, wenn sie Quartiere gemeinsam qualitätsvoll entwickeln.“ass die Qualität stimmt, lässt sich die Stadt viel kosten: Für Tram-ausbau, Parks und Plätze wird sie bis zu 150 Millionen Euro investieren. Private Bauherren und Genossenschaften bekommen etwas geboten. Aber sie bieten auch etwas: Von Coop Himmelb(l)au, Thomas Pucher über Pentaplan bis hin zu Eisenköck/peyker haben namhafte Architekten ihre digitalen Reißbretter in die Hand genommen.
DAngesichts historischer Hochhaus-verirrungen – vom Lendplatz bis zum Elisabethhochhaus schrieb Max Mayr in der Kleinen Zeitung 1972: „Mit den Grazer Wolkenkratzern ist das so eine eigene Sache. Sie stehen in der Regel dort, wo sie nicht hingehören“, und zitierte die Schlagzeile einer deutschen Zeitung zum Posthochhaus: „Eine Stadt gibt sich auf“. Was folgte: Jahrzehnte des verdichteten Flachbaus mit Flächenfraß. Die Schlagzeile der Deutschen passt auch heute, denkt man an Anleger-wohnsilos, die wuchern. Hier tötet Gewinnmaximierung in Geschoßen jede Vision einer idealen Stadt.
In Reininghaus, zwischen den Kränen, Baugruben und Rohbauten, ahnt man Herausforderungen, die warten. Werden die Erdgeschoßzonen funktionieren? Wird sich Leben auf den Straßen abspielen? Bremst das Mobilitätskonzept die Autoflut? Aber man bekommt auch die Ahnung, dass es klappen könnte. Dass Hochhäuser am richtigen Platz entstehen. Dass Graz es mit Stadtteilentwicklung hier ernst meint. Vielleicht wird Reininghaus nicht ideal, aber allemal überzeugend urban. Ja, Reininghaus ist Hoffnungsgebiet. Dafür brauchte Graz einen Werber. Also, doch ein spätes Danke, Ernst Scholdan!