Schwarzer Reiter und Jokerman
Das neue Album von Bob Dylan ist rau, räudig und ruppig, aber dennoch von erhabener Schönheit.
Am Beginn stehen Selbstbekenntnis und Selbsterkenntnis und natürlich – wie könnte es bei diesem ewigen Jokerman anders sein – das lustvolle Spiel mit beidem: „I Contain Multitudes“heißt der erste Song auf dem neuen Album von Bob Dylan, das den Titel „Rough and Rowdy Ways“trägt. Es ist die erste Platte mit neuem Liedgut seit „Tempest“aus dem Jahr 2012. Die Zeile „I Contain Multitudes“stammt aus dem Gedicht „Song of Myself “des amerikanischen Nationaldichters Walt Whitman und kann unzulänglich mit „Ich enthalte Vielheiten“oder „Ich bin viele(s)“übersetzt werden. Das Gedicht beginnt so: „Ich feiere mich selbst und ich singe mich selbst/und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen/denn jedes Atom, das mir gehört, gehört genauso gut dir.“
Eine bessere Beschreibung dafür, was Bob Dylan seit nunmehr 60 Jahren vollbringt und auf seinem 39. Album in eine Qualitätsdimension hochhebt, die jenseits von gut und schlecht oszilliert, kann man kaum finden. Denn die Songs auf „Rough and Rowdy Ways“sind im Grunde ein prächtiges Paradoxon: Sie sind dunkel, unerbittlich, mitunter brutal und bieten wenig Trost, dennoch verbreiten sie keine nihilistische Trostlosigkeit, sondern eine zeitlose Schönheit, die die
Bob Dylan: „Rough and Rowdy Ways“. Sony.
Erscheint heute auf CD und auf den Streamingplattformen und im Juli auch als Doppel-vinyl.
Finsternis kraftvoll ausleuchtet. Viel kann und wird man in dieses Spät- und natürlich auch Alterswerk hineininterpretieren, immerhin geht Robert Zimmerman in sein 80. Lebensjahr. Die Dylanologen werden jahrelang aufgeregt damit beschäftigt sein, all die Anspielungen, Metaphern und Querverweise zu entschlüsseln, die üppig aus den Textzeilen sprießen. Und das schillernde Personal, das der Literaturnobelpreisträger 2017 hier zum Leben erweckt, mag auf den ersten Blick wie eitles Namedropping wirken,
wie eine ambitionierte Proseminar-arbeit, doch in Wahrheit setzt Dylan all diese populärhistorischen Ikonen in Relation zu seinem eigenen Lebenspuzzle.
Da taucht Anne Frank neben Indiana Jones auf, Edgar Allen Poe neben William Blake, die Beatles neben Beethoven, Elvis neben Schubert. Und natürlich immer wieder John F. Kennedy, um dessen Ermordung das bereits vorab veröffentlichte Songpoem „Murder Most Foul“kreist. „Am unwahrscheinlichsten Ort von allen – auf der kommerziellen Schallplatte – gab Bob Dylan der Sprache der Dichtung den erhabenen Stil zurück, der seit den Romantikern verloren gegangen war“, sagte Horace Engdahl in seiner Nobelpreis-laudatio. Denn inmitten des Niedergangs, inmitten der drohenden Auslöschung und all der Irrfahrten sucht Dylan – wie alle Apokalyptiker – die Erlösung, auch jene durch die Liebe. Im Song „Crossing the Rubicon“, einem der stärksten des Albums, landet der singende Zeitenwanderer schließlich im Paradies.
Jenseits all dieser Betrachtungen ist „Rough and Rowdy Ways“schlicht und einfach – wenn so etwas bei Dylan möglich ist – ein grandioses, hoch konzentriertes Album mit zehn monolithischen Songbrocken und keinen Leer- oder Schwachstellen. Hier ist ein unantastbarer Meister am Werk, der sich keinen Schnitzer erlaubt. Getragen wird Dylan von einer exquisiten Band, die diesen Namen längst verdient und mehr als Begleitmusik liefert. Oft torkeln die Lieder windschief durch die Nacht und Dylan heult wie ein räudiger Kojote den Wüstenmond an („Black Rider“). Dann wieder – wie im herzzerreißenden Liebeslied „I’ve Made up My Mind to Give Myself to You“– schmalzt der Crooner durch das Neonlicht. In „Mother of Muses“wendet sich der Sänger an Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung. Wir erinnern uns: Odysseus und Dylan, die Never Ending Tour. No Direction Home.
Wer will, kann diese Platte auch als Endspiel sehen, obwohl sie beileibe nicht danach klingt. „If There Ever Was a Time Then Let It Be Now“, krächzt Dylan dem Schwarzen Reiter ergeben zu. Bleibt zu hoffen, dass der Meister uns noch möglichst lange Rätsel aufgibt. Und der Schlüssel dazu? Walt Whitman auch zum Schluss: „Mein Standpunkt ist verzapft und gestemmt in Granit/ich lache über das, was ihr Auflösung nennt.“
Man muss sich nicht auf Tinder herumtreiben, man kann auch über das Stricken zur großen Liebe finden – vorausgesetzt, Sie sitzen in einem kleinen Mitternachts-imbiss im Ausgehviertel Shinjuku in Tokyo. Streamingnutzer kennen Fluch und Segen eines Algorithmus: Man bleibt in der eigenen Inhaltsschleife gefangen. Dabei entgehen einem Fundstücke, die man nur durch zielloses Surfen findet. „Midnight Diner“auf Netflix basiert auf einem Manga und ist grob gesagt eine japanische Nightlife-version von „Die liebe Familie“. Eine sympathische Mischung aus schrägen Vögeln, die sich von zwölf Uhr Mitternacht bis sieben Uhr morgens die Klinke in die Hand geben. D reh- und Angelpunkt ist der Inhaber der zwölfsitzigen Schenke, der nur „Meister“genannt wird. Der ist eine Art Frau Sokol und steht seinen Stammkunden mit Rat und Tat zur Seite: vom Mahjongg-spieler, der plötzlich Vater wird, bis hin zur Maklerin, die ihren Angebeteten unbedankt Pullover strickt. Hauptdarsteller ist aber das Essen, das nur scheinbar so nebenbei zubereitet wird. Obwohl nur ein Gericht auf der Speisekarte steht, Misosuppe mit Schweinefleisch, zaubert der Meister wahre Köstlichkeiten. Eines bewahrheitet sich am Ende: Nichts ist so tröstend wie Suppe.