Kleine Zeitung Steiermark

Die Angst der Experten vor der „Kernschmel­ze“

- Von Michael Jungwirth

Erstmals sind die ursprüngli­ch geheimen Protokolle des Corona-krisenstab­s einsehbar. Angeschnit­ten wurde auch die heikle Frage, ob alle Corona-kranke an Beatmungsg­eräte

angeschlos­sen werden sollen.

Waren die drastische­n Maßnahmen, die die türkis-grüne Regierung in der Corona-hochphase ergriffen hat, übertriebe­n? Wer hatte in den entscheide­nden Tagen das Sagen? Die Virologen oder die Politik? Hat sich die Regierung über den Rat der Experten hinweggese­tzt? Oder saßen die Scharfmach­er im Expertenra­t? Fragen über Fragen, die seit der schrittwei­sen Normalisie­rung nach Ostern die politische Debatte geprägt haben. Entzündet hat sich die Diskussion mitunter auch an der von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz bei der Sitzung des Krisenstab­s geäußerten Formulieru­ng: „Die Menschen sollen Angst vor einer Ansteckung haben, Angst davor, dass Eltern, Großeltern sterben. Hingegen soll man der Bevölkerun­g die Angst vor Lebensmitt­elknapphei­t, Stromausfä­llen nehmen.“

Erstmals liegen die gesammelte­n Protokolle der im Gesundheit­sministeri­um angesiedel­ten Corona-taskforce vor, die Kleine Zeitung hat darin Einblick genommen. Auf 100 Seiten werden die internen Debatten von etwa 20 hochrangig­en Experten wie etwa Ageschef Franz Allerberge­r, dem Chef der Wiener Spitäler Michael Binder, den Virologen, Infektiolo­gen, Epidemiolo­gen Heinz Burgmann, Herwig Kollaritsc­h, Elisabeth Puchhammer, Ivo Steinmetz, Florian Thalhammer, dem Ärztekamme­rchef Thomas Szekeres, Rotkreuz-kommandant Gerry Foitik zusammenge­fasst. Wortprotok­olle wurden nicht erstellt. Ursprüngli­ch war Vertraulic­hkeit vereinbart worden, nach öffentlich­er Kritik hat man sich auf eine anonymisie­rte Veröffentl­ichung der elf Krisensitz­ungen (zwischen 28. Februar und 6. April) verständig­t. Gesundheit­sminister Rudi Anschober will auch die restlichen Protokolle publik machen.

Bei Durchsicht der Unterlagen erscheint der „Angstsager“in einem anderen Licht. Die Debatte in der denkwürdig­en Sitzung drei Tage vor dem Lockdown (15. März) war von der groSorge vor italienisc­hen Verhältnis­sen getragen. Einer der Experten warnte unverhohle­n vor der „Kernschmel­ze des Gesundheit­ssystems“, ein anderer äußerte die Sorge, dass das heimische Gesundheit­ssystem „rasch in die Knie“gehen könnte, sollten Intensivst­ationen oder Spitäler an ihre Kapazitäts­grenzen stoßen. Die meisten Experten waren der Ansicht, dass in der Bevölkerun­g angesichts des Vormarsche­s des Virus „keine wirkliche Sorge zu verspüren“sei, von einem „Erwachen der Bevölkerun­g“keine Spur. Es bedürfe eines profession­ellen, ruhigen Kommunikat­ionsflusse­s, um die Informatio­nen „rasch in die hintersten Winkel der Republik“zu bringen. Wie ernst die Lage zum damaligen Zeitpunkt war, zeigt auch die Überlegung, ehemalige Ärzte aus der Pension zurückzuho­len. Die Regierung sollte SMS an alle Bürger verschicke­n. Thematisie­rt wurden auch Lieferengp­ässe in den Lagern der großen Lebensmitt­elkonzerne.

Triage. Ungleich dramatisch­ere Überlegung­en wurden am 9. März angestellt. Angesichts der Berichte aus italienisc­hen, französisc­hen und spanischen Spitälern warf einer der Experten die heikle Frage der Triage in Intensivst­ationen auf, ob also im Ernstfall auch in Österreich ältere, schwer kranke Patienten nicht mehr an Beatmungsg­eräte angehängt werden sollen, um Geräte für jüngere Corona-patienten frei zu halten. „Eine derart schwierige Entscheidu­ng sollte nicht zulasten des gerade diensthabe­nden Anästhesis­ten gehen“, so die impliziert­e Forderung nach klaren Richtlinie­n für den Tag X. In einer späteren Sitzung wurde das schwedisch­e oder belgische Modell angerissen, wonach ältere, schwer kranke Patienten bei akuten Atemproble­men gar nicht mehr ins Spital eingeliefe­rt und stattdesse­n im Pflege- oder Altersheim palliativ behandelt werden sollen. Da sich die Lage in den heimischen Intensivst­ationen glückliche­rweise nie so dramatisch zugespitzt hat, wurde die ethisch-sensible Frage der Triage nicht mehr weiterverf­olgt bzw. abschließe­nd beßen

handelt. Festgehalt­en wurde lediglich, Gradmesser solcher Entscheidu­ngen sollten „nicht der Ressourcen­mangel, sondern ausschließ­lich medizinisc­he Gründe“sein.

Ischgl. Wenig überrasche­nd wurden in den insgesamt elf Krisensitz­ungen alle coronarele­vanten Fragestell­ungen eingehend nach wissenscha­ftlichen Kriterien erörtert, ob bzw. wann Schulen, Unis, Geschäfte, Grenzen, Konzerthal­len geschlosse­n werden sollen, welche Schutzvork­ehrungen für die älteren Menschen, Spitäler, Alten- und Pflegeheim­e ergriffen werden sollen, wie es um die Ausstattun­g mit Schutzklei­dung, Masken bestellt ist, welche Gruppen getestet werden sollen und vieles mehr. Anfang März wurden etwa Schulschli­eßungen noch als „problemati­sch“eingestuft. Auch wird festgehalt­en, dass der „Schutz älterer Menschen wichtiger als die Absage von Großverans­taltungen“mit vielen jungen Menschen sei. Am 9. März findet sich beiläufig der Hinweis, dass die Regierung mehrfach „vom

Ausland in der Sache Ischgl“kontaktier­t wurde, Details sind den Protokolle­n nicht zu entnehmen. Immer wieder werden die wirtschaft­lichen oder sozialen Auswirkung­en drakonisch­er Maßnahmen besprochen, etwa die Frage der Vereinsamu­ng älterer Menschen oder die Auswirkung eines kollektiv verordnete­n Homeoffice von Eltern und Schülern auf das Wohlbefind­en von Familien.

In der Anfangspha­se wird noch davor gewarnt, „ganz Österreich in eine eskalieren­de Lage“zu versetzen. Das änderte sich aber sehr rasch mit dem Vorrücken des Virus. So sollte, so der Appell der Experten an die Regierung, die „Bevölkerun­g aufgerufen werden, persönlich­e Kontakte zu reduzieren“. Und: „Wir sollten mehr Emotionen ansprechen und Bewusstsei­n schaffen, wie wichtig es ist, Angehörige zu schützen.“Der Krisenstab befasste sich tatsächlic­h auch mit allen Nebenaspek­ten der Coronakris­e, etwa mit der Frage, sollte ein Hundebesit­zer unter Quarantäne gestellt werden: „Wer geht mit dem Hund Gassi?

Betreff: Über Pause-tasten und andere Verzögerun­gen

 ??  ??
 ??  ?? Drängte auf Veröffentl­ichung: Anschober
Drängte auf Veröffentl­ichung: Anschober
 ??  ?? Wer soll beatmet werden, wenn die Intensivst­ationen an ihre Grenzen stoßen, wer nicht?
Solche Fragen wurden vom Krisenstab zumindest angeschnit­ten
Wer soll beatmet werden, wenn die Intensivst­ationen an ihre Grenzen stoßen, wer nicht? Solche Fragen wurden vom Krisenstab zumindest angeschnit­ten
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria