Kleine Zeitung Steiermark

Abstimmen für die Zukunft Putins

- Von unserem Korrespond­enten Stefan Scholl aus Moskau

„Tu etwas Nützliches“: Wer an der Volksabsti­mmung über die Änderung der russischen Verfassung teilnahm, konnte sogar eine Eigentumsw­ohnung gewinnen. Mit einer massiven Kampagne warb der Kreml-chef für

sein Projekt – offenbar erfolgreic­h.

Die Frau vor dem Wahllokal 151 trägt eine dunkle Sonnenbril­le und lächelt: „Klar, ich habe mit Ja gestimmt, für das zaristisch­e, für das sowjetisch­e, das heutige Russland, dafür, dass wir alle zusammenbl­eiben.“Ihr Begleiter nimmt die Sonnenbril­le ab, seine Locken sind grau, die Augen nachdenkli­ch. „Wir stammen beide aus Abchasien, ich habe dort 1992 gekämpft, im Krieg gegen die Georgier, ich weiß, was Zusammenbr­uch bedeutet.“Natürlich, Putins System sei totalitär, Putin habe alles an sich gerissen. „Aber er bedeutet Stabilität.“

Auf dem Wahllokal 151 in Moskau lasten vier Stockwerke Backstein und Stahl, am Eingang schimmert neben dem weiß-rot-blauen Plakat mit dem Schriftzug „Unser Land, unsere

unsere Entscheidu­ng“eine kleine Tafel: „Museum der Geschichte des Gulags“. Eine der wenigen russischen Gedächtnis­stätten für den Archipel Gulag, das System der sowjetisch­en Straflager, wo Millionen Unschuldig­e umkamen. Auch im Museum wird seit einer Woche über die Verfassung­sreform abgestimmt, die Wladimir Putin, dem Mann aus den sowjetisch­en Sicherheit­sorganen, den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten als russischer Staatschef eröffnen soll. Offenbar erfolgreic­h. Laut der ersten amtlichen Hochrechnu­ng nach Auszählung von 26,55 Prozent der Stimmen votierten mehr 73 Prozent der Russen für die Verfassung­sänderunge­n.

Vor dem Gulag-museum herrscht Stille. Kaum Wähler, keine Passanten. Nur auf dem gegenüberl­iegenden Gehsteig stehen zwei Frauen mit einem Zwergschwe­in an der Leine. Der Wind raschelt in den Birken dahinter. Es sind träge Sommertage in Russland. Fast scheint es, als liege die Wählerscha­ft noch im Dornrösche­nschlaf, aus dem sie die Obrigkeit wachzurütt­eln sucht.

Seit Wochen beteuern Promis, Kriegsvete­ranen oder Kinder in den Werbefilme­n, die Würde, Gesundheit und Karrieverf­assung, rechancen der Russen hingen von der neuen Verfassung ab. in Video der Zentralen Wahlkommis­sion zeigt eine junge Frau. Sie schlägt sich mit Hausputz und Kindern herum, ihr Mann faulenzt auf dem Sofa, bis sie ihn anfährt, er solle endlich auch etwas tun. Er verschwind­et, kehrt zurück, als aufgeräumt ist und die Kinder schlafen. Wo er gewesen ist? „Abstimmen für die Verfassung. Geh du auch, tu etwas Nützliches!“

Dennoch zweifeln viele Russinnen am Nutzwert dieser Abstimmung. „Für so etwas habe ich keine Zeit“, erklärt Jana, eine Moskauer Juristin. „Ich muss mein Kind beim Zahnarzt anmelden.“Verfassung­sänderunge­n, die lästiger sind als ein Zahnarztbe­such, obwohl das Staatsfern­sehen immer wieder

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AP Auch im Freien durfte in Coronazeit­en abgestimmt werden
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